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Karneval Ein Bördedorf feiert in Köln

Vor 30 Jahren nahm ein kleines Dorf aus der Börde am Rosenmontagsumzug in Köln teil.

Von Klaus-Peter Voigt 21.02.2020, 23:01

Domersleben/Köln l Es glich einer kleinen Sensation. Vor 30 Jahren wurde eine feste Regel beim Rosenmontagszug in Köln gebrochen. Im „Zoch“ dürfen in der Karnevalhochburg traditionell nur Gruppen mitgehen, die Mitglieder des Festkomitees sind. Eiserne Regeln gibt’s halt auch bei den Jecken. Niemand soll denken, dass es bei einem solchen Ereignis nur um den Spaß geht. Mit dem Mauerfall und der Euphorie der Wendezeit gab es eine Ausnahme. 16 Mitglieder des Domersleber Carnevals-Clubs (DCC) durften sich in die Formation der Karnevalsgesellschaft „Löstige Höhenhuuser“ einreihen.

„Ein immenses Glück spielte uns in die Hände“, berichtet Elke Warnecke. Rund ein Dutzend Vereine habe sich damals um eine solche Ehre beworben. Der Brief aus dem Bördedorf sei an Kölns Oberbürgermeister gegangen, der allerdings in dieser Sache keine Entscheidungsbefugnis hatte. Die lag ausschließlich beim Festkomitee. Während das noch nach einer Lösung suchte, schuf der Journalist Norbert Ramme Tatsachen. Beim vorwitzigen Blick auf die Kandidatenliste entdeckte er den DDC und verkündete im Kölner Stadtanzeiger: „Domersleber Jecken gehen im Zoch mit“.

Nun gab es kein Zurück mehr. Zugleiter Alexander von Chiari stellte fest: „Euch hat der liebe Gott geholfen“. 16 aktive Karnevalisten wurden offiziell eingeladen und freuten sich auf den Umzug. Weitere reisten zusätzlich an, einfach um dabei zu sein. Von diesen Tagen am Rhein schwärmt das Domersleber Karnevalsurgestein Rosemarie Mendt noch heute. Sie erinnert sich aber auch an die größte Enttäuschung beim Rosenmontagszug. Die eigenen Kostüme in Blau-Gelb mussten im Koffer bleiben. Es galt sich der „Anzugsordnung“ des gastgebenden Vereins anzupassen. „Und das war für uns ein Schock. Wir mussten in Clownskostüme schlüpfen, nur die vier Tanzmädchen bekamen eine Ausnahmegenehmigung“, berichtet die 82-Jährige. Letztlich habe das dann aber der ganzen Sache keinen Abbruch getan und mit dem Kölner Karnevalsverein verbindet die Domersleber bis heute eine enge Freundschaft. Lediglich das „Börde Helau“ musste am Rhein zurückhaltend verwendet werden, da das Helau dem närrischen „Erzfeind“ Düsseldorf gehört.

„Der DCC wurde 1971 in Domersleben gegründet“, berichtet dessen langjähriger Präsident Jochen Warnecke. Mit seiner Frau Elke war er acht Jahre später dem erlauchten Kreis als Prinzenpaar beigetreten. Richtig gefragt habe man sie damals nicht, sie wurden zum Ehrenamt „verdonnert“. Als Spiritus Rector der fröhlichen Gesellschaft gilt unbestritten der Schriftsteller Martin Selber (1924-2006), mit bürgerlichem Namen Martin Merbt. Der hatte das Dorf schon früh kulturell in Schwung gebracht, mit dem Bördeensemble Chor, Tanzgruppe und Blasorchester unter ein Dach gebracht. 1962 schliefen die Aktivitäten ein. „Vor ihm hatten wir im Ort Respekt, er strahlte Elan aus und holte uns Jugendliche von der Straße“, erinnert sich Rosemarie Mendt. Der „Kulturvater“ schlug schließlich vor, mit einem eigenen Carnevals-Club wieder etwas auf die Beine zu stellen. Das gelang. Gesang, Sketche, Büttenreden und Tänze zogen von Anfang an die Zuschauer an. Selbst aus Magdeburg kamen komplette Brigaden, die Gelder aus den betrieblichen K+S-Fonds (Kultur- und Sozialfonds) verjubelten. Karten waren begehrt, alle 14 Veranstaltungen im Kulturhaus komplett ausverkauft. „Mehr konnten wir einfach nicht leisten“, erzählt Jochen Warnecke. Mit der Wende dann die Ernüchterung, ein kurzer Tiefpunkt, heute gibt’s noch drei Sitzungen des Elferrats, eine davon im benachbarten Groß Rodensleben. Und Rosenmontag wird im „Schafstall“ für 200 Leute Stimmung mit einem gekürzten musikalischen Programm gemacht. Aus Tradition heraus sind Magdeburger Ottojaner seit Jahren Gäste der Premiere. Ja, das abnehmende Interesse sei bedauerlich, sagt Rosemarie Mendt. Der Aufwand für das rund zweistündige Programm wäre ähnlich wie zu DDR-Zeiten. Um die 50 Aktiven kümmern sich wie einst um Technik, Kostüme, Bühne und das Programm. Sie selbst steht heute nicht mehr in der Bütt. Dort erntete sie als „Mineken Muusekeddel“ (Mienchen Mauseköttel), mit dem Namen reden sie die Domersleber nach wie vor an, bei 441 Auftritte enormen Beifall. Das Besondere: alle Reden wurden in „platt vertellt“. Andere Nummern haben an Beliebtheit nichts verloren. Zu den Stars auf der Bühne gehören die vier Strickfrauen Martha, Agathe, Trude und Rosali. Die Klatschweiber, von denen zwei Männer sind, tratschen über das Dorfgeschehen.

Für Leistungen rund um das närrische Treiben verleiht der Verein fast von Anfang an seine eigenen Orden. Die aus den ersten Jahren des DCC sind in der Domersleber Heimatstube zu bestaunen. „Ursprünglich wurden die in Handarbeit hier im Dorf hergestellt, teilweise aus Gips“, erzählt Elke Warnecke lachend. 1985 wurde eine barbusige Dame zum Ordensmotiv. Also, prüde war niemand. Die Chronik füllt mehr als eine ganze Regalreihe von Aktenordnern. Manch frecher Spruch aus Zeiten des real existierenden Sozialismus ist dort festgehalten. 1972 war von den Bänkelsängern zu hören: „Der Konsum steckt voll Ware, was soll denn hier passier´n? Zwee Mann vom Neuen Deutschland woll´n morgen fotografier´n.“ Und vier Jahre später trällerten sie: „Einst hatten wir ein Kulturhaus voll Leben, bunt und schick, das holte sich vor Zeiten den Sieg der Republik. Jetzt zehrt es von Erinnerungen und eigener Substanz. Bald werden die letzten Stühle, zerlegt beim Jugendtanz.“ Jochen Warnecke berichtet von Chuzpe, die manchmal nötig war. Als Polizistenwitze gerade im Mode waren, bat der Amtsleiter des VPKA (Volkspolizeikreisamt) sehr freundlich, doch darauf zu verzichten, um seine Genossen nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Kurz entschlossen wurden aus den Uniformierten Ostfriesen und die Welt war wieder in Ordnung. Keinen Spaß gab es bei brisanten Themen. Der Rat des Kreises Wanzleben teilte 1983 mit: „Entsprechend einer Weisung des Rates des Bezirkes … möchten wir Sie hiermit in Kenntnis setzen, dass der Titel ‚Sonderzug nach Pankow‘ von und mit Udo Lindenberg in Ihren Veranstaltungen … nicht zu spielen ist.“

Die Erinnerungen an 49 Jahre Domersleber Carnevals-Club sind in dem 1200-Seelen-Dorf lebendig. Die närrischen Sessionen finden nach wie vor im Kulturhaus statt und der Ruf „Börde-Helau“ wird auch in der kommenden Zeit zu hören sein.