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Chronik Stasi lagerte in Wanzleben Giftgas

Der Klein Wanzleber Siegfried Jackowicz hat eine Chronik über die Zeit von 1989 bis 1995 im Kreis Wanzleben verfasst.

Von Mathias Müller 24.04.2019, 01:01

Wanzleben l Wenn Siegfried Jackowicz (65) in der druckfrischen Chronik blättert, dann leuchten seine Augen. Auf 25 Seiten hat der frühere Lehrer die jüngere Geschichte des Kreises Wanzleben verewigt. Unter dem Titel „Die Entstehung und das Wirken der SPD im Kreis Wanzleben von 1989 bis 1995“ hat er die politischen Ereignisse zusammengefasst. „Die Chronik ist aber nicht einseitig und nur auf die Wanzleber SPD bezogen“, versichert der Autor. Sie spiegele die spannende Zeit der politischen Wende in der DDR und die Jahre danach wider. Finanziert hat den Druck der Chronik der SPD-Ortsverein Wanzleben-Börde.

Siegfried Jackowicz ist ein Kenner der politische Szene in der Börde. Für die SPD saß er von 1990 bis 2014 als Mitglied im Kreistag. Hat damit die Politik im Kreis Wanzleben, im Bördekreis und im heutigen Landkreis Börde mitbestimmt. „Ich habe alle Kreisfusionen miterlebt und mitgestaltet“, sagt er. Gerade die politische Wende in der DDR und im Kreis Wanzleben sei an Spannung und Dramatik kaum zu überbieten gewesen. „Der erste Wanzleber Kreistag nach der Wende war unheimlich lebendig, wir lernten alle jeden Tag etwas dazu“, erinnert sich Jackowicz. Auch habe der Kreistag Beschlüsse verabschiedet, die er hätte nicht verabschieden dürfen. Zum Beispiel, dass frühere Staatsbürgerkundelehrer aus der DDR im vereinigten Deutschland nicht im Fach Gesellschaftskunde unterrichten durften oder dass die Hortnerinnen an den Grundschulen eingestellt worden seien. Auch habe sich der Wanzleber Kreistag mit der großen Politik beschäftigt und in einer Sitzung unter anderem stundenlang über den Putschversuch in Moskau debattiert. Allerdings ohne greifbares Ergebnis. „Viele von uns Kreistagsmitgliedern waren überrascht davon, welch große Verantwortung sie plötzlich trugen. Einige haben dafür sogar ihre Berufe aufgegeben“, sagt Jackowicz.

Als einen der großen politischen Erfolge des Kreistags sieht Siegfried Jackowicz an, dass es gelungen ist, in Wanzleben ein Gymnasium zu bauen. Er selbst war es, der als Vorsitzender der SPD-Fraktion im September 1990 im Kreisausschuss erstmals die Forderung nach dem Bau eines Gymnasiums stellte. „Neben der SPD favorisierten die CDU und die FDP ein Gymnasium, so dass am 10. Dezember 1990 in einem interfraktionellen Antrag die Fraktionsvorsitzenden Dr. Ernst Isensee ( CDU), Gerhard Sandring (FDP) und Siegfried Jackowicz (SPD) sich für den Neubau eines Gymnasiums aussprachen. Mit der großen Mehrheit dieser Parteien wurde der Antrag angenommen“, ist in der Chronik zu lesen.

Wie sich Jackowicz erinnert, habe es jedoch im Kultusministerium Sachsen-Anhalts Vorbehalte gegen den Neubau in Wanzleben gegeben. Bei den Beamten habe die Meinung vorgeherrscht, dass die Schüler auch in Magdeburg ihr Abitur erwerben könnten. Dies hätte nach Auffassung des Kreistages und des damaligen Kreistagsvorsitzenden Dr. Karl Heinz Daehre (CDU) eine Benachteiligung des ländlichen Raumes bedeutet. Deshalb besuchte Daehre den damaligen Kultusminister Werner Sobetzko (CDU). Dieses Gespräch fand abends statt und dauerte bis nach Mitternacht.

„Nach mehr als 18 Jahren darf ich verraten, dass die von mir mitgebrachte Cognacflasche an diesem Abend geleert wurde“, wird Daehre in der Chronik zitiert. Und weiter schreibt Jackowicz: „Nach vollbrachter aufopferungsvoller Tat wurde um Mitternacht die Zustimmung des Ministers Sobetzko erreicht. Auch eine am nächsten Tag einsetzende Intervention der Beamtenschaft änderte nichts an der Entscheidung der vergangenen Nacht. Damit war die Grundlage für ein Gymnasium für 900 Schüler und eine Sporthalle gelegt“.

Auch beleuchtet Siegfried Jackowicz in der von ihm verfassten Chronik das Agieren der Kreisdienststelle für Staatssicherheit Wanzleben zur Wendezeit. Besonders erschreckend sei für den Autor dabei gewesen, dass auf dem Stasi-Gelände chemische Kampfstoffe wie Sarin gelagert worden seien. Wie der frühere stellvertretende Leiter der Wanzleber Stasi-Dienststelle bei einer Begehung gegenüber Bürgern geäußert habe, seien die Kampfstoffe jedoch auf Anweisung der Magdeburger Stasi abtransportiert worden. Wanzleben sei so möglicherweise einer Katastrophe mit vielen Toten entkommen.

In den Räumen des früheren DDR-Geheimdienstes fanden die Bürger zudem Nebelgranaten, 20 Maschinenpistolen, Panzerfäuste, Scharfschützengewehre und Tränengasgranaten. Außerdem entdeckte die Bürgergruppe in der Stasi-Zentrale ein geheimes Zimmer. Dort lagerten Lebensmittelkarten für den gesamten früheren Bezirk Magdeburg. Ebenso Unterlagen zu einem geplanten Internierungslager für Regimegegner in der Schule Dreileben. Mehr als 120 Einwohner des Kreises Wanzleben sollten dort von der Stasi festgehalten werden. „Ich war erschüttert, als ich meinen Namen auf der Liste der zu Internierenden las. Glücklicherweise brachten die Demos in Leipzig und die folgenden Ereignisse das DDR-Regime zu Fall, so dass in der Schule Dreileben kein Einwohner des Kreise interniert wurde“, zeigt sich Jackowicz erleichtert über den Verlauf der jüngeren deutschen Geschichte. Auch deshalb sei es ihm wichtig gewesen, jetzt fast 30 Jahre nach der Wende, in dieser Chronik die lokalen Ereignisse im Kreis Wanzleben aufgeschrieben zu haben. Ein Dokument gegen das Vergessen.

Wie Siegfried Jackowicz sagt, hat er für die Chronik etwa ein Jahr lang recherchiert und etliche Zeitzeugen befragt. Die meisten Unterlagen fand er im Kreisarchiv in der Oschersleber Burg und in der Magdeburger Stasi-Unterlagenbehörde. Die Chronik kann zum Preis von einem Euro im Bürgerbüro der SPD-Landtagsabgeordneten Silke Schindler am Wanzleber Markt gekauft werden. Jackowicz wünsche sich, dass dieses Werk zur jüngeren Zeitgeschichte auch im Unterricht an Wanzleber Schulen behandelt werde.