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Holocaust Spurensuche führt zu tiefer Freundschaft

Die Wernigeröderin Renate Goetz hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem jüdischen Leben in Wernigerode nachzuspüren.

Von Julia Bruns 27.01.2018, 00:01

Wernigerode l „Es sind viele Wernigeröder in Auschwitz ermordet worden, man darf nicht müde werden, daran zu erinnern“, sagt Renate Goetz. Viele Zeichen gegen das Vergessen hat die 69-Jährige in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Wernigerode gesetzt: So gehen die Stolpersteine, die Plakette im Rathaus, eine Broschüre und ein Film auf ihr Engagement zurück. Nicht zuletzt die jahrzehntelange Freundschaft zu Siegfried Rosenthal, einem der wenigen Wernigeröder Juden, denen die Flucht vor der Vernichtungsmaschinerie der Nazis glückte, prägt die engagierte Christdemokratin bis heute. Siegfried Rosenthal: Er war der letzte lebende Jude aus Wernigerode.

„Ich habe 1991 angefangen, über das jüdische Leben in Wernigerode zu recherchieren“, erinnert sich Renate Goetz, die zu DDR-Zeiten stellvertretende Leiterin eines Kinderheimes war. Sie interviewte damals bereits all jene, die ihr etwas zu den Juden in der Stadt berichten konnten. Akribisch zeichnete sie die Lebenswege der Familien nach, die enteignet und vertrieben, die deportiert und ermordet wurden.

Woher dieser Antrieb kam? Schon zu DDR-Zeiten habe sie sich immer wieder die Frage gestellt, wieso der Staat Israel ständig als „der Aggressor“ dargestellt wurde. „Wir haben den Juden so viel Leid angetan, da war das für mich unerklärlich. Ehrliche Antworten habe ich nicht erhalten“, sagt die Kommunalpolitikerin, die 19 Jahre lang im Stadtrat aktiv mitarbeitete.

Das Schicksal nahm seinen Lauf, als Renate Goetz nach eben einer solchen Stadtratssitzung am 25. August 1994 nach Hause kam und gegen 23 Uhr den Sender Arte einschaltete. Die Dokumentation „Lissabon – Hafen der Hoffnung“ lief, und Renate Goetz glaubte, sie könne ihren Augen nicht trauen, als sich herausstellte, dass einer der Protagonisten Siegfried Rosenthal heißt. „Auf diesen Namen war ich während meiner Recherchen immer wieder gestoßen. Ich wusste, dass sein Vater von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde, aber hatte die Spur von Siegfried und seiner Mutter in Paris verloren“, sagt sie im Volksstimme-Gespräch.

„Ich hoffe und wünsche mir, dass meine Zeilen ein ganz klein wenig die schlechten Erinnerungen verdrängen und Sie die Gewissheit haben, dass Familie Rosenthal aus der Breiten Straße 11 nicht vergessen ist.“

Renate Goetz in ihrem Brief an Siegfried Rosenthal aus dem Jahr 1994

Über den Straßburger Sender erhielt sie schließlich den Kontakt zum Regisseur, der Siegfried Rosenthal in seiner Heimat Lissabon um Erlaubnis bat, die Daten an die interessierte Fernsehzuschauerin weiter zu geben. Sie schrieb ihren ersten Brief an den damals schon hochbetagten Herren. Es sollte einer von vielen Briefen sein.

„Wie Sie an den beiliegenden Schriftstücken sehen, haben wir in Wernigerode im Rathaussaal eine Gedenktafel für die jüdischen Mitbürger angebracht“, schreibt sie in dem Brief. „Ich hoffe und wünsche mir, dass meine Zeilen ein ganz klein wenig die schlechten Erinnerungen verdrängen und Sie die Gewissheit haben, dass Familie Rosenthal aus der Breiten Straße 11 nicht vergessen ist.“

Zwei Wochen später erhielt sie die Antwort aus Portugal. „Dass Sie mich durch eine Fernsehsendung gefunden haben, ist tatsächlich ein Wunder“, so Rosenthal, der zu jenem Zeitpunkt bereits 56 Jahre in Lissabon lebte. „Doch ein noch größeres Wunder ist für mich, dass es in Wernigerode jemanden gibt, der diese Gelegenheit nutzt, mich zu suchen.

Jemand, der sich für das Schicksal der wenigen jüdischen Familien interessiert, welche vor der Nazizeit in der ‚bunten Stadt am Harz‘ lebten. Jemand aus einer Generation, die die Schrecken und Gräuel jener Jahre nicht miterlebt und aus deren Folgen – hoffentlich – gelernt hat.“

Er berichtet Renate Goetz von der Flucht mit seiner Mutter nach Portugal, einem der wenigen Länder, das damals noch Einwanderern ohne Visazwang eine Aufenthaltserlaubnis erteilte. Und er schreibt von seinem Vater, der während seiner Flucht nach Lissabon bei Kriegsausbruch in Frankreich als deutscher Staatsangehöriger in Paris interniert, dann nach Südfrankreich gebracht und schließlich im besetzten Frankreich 1942 der Gestapo übergeben wurde. Die Nazis brachten ihn nach Auschwitz. „Dort wurde mein Vater am 21.9.42 vergast“, schreibt Siegfried Rosenthal.

„Auschwitz war eben auch in Wernigerode“, sagt Renate Goetz heute nachdenklich. 1995 reiste Siegfried Rosenthal auf Einladung der Stadtverwaltung nach Wernigerode, er berichtete zum 50. Jahrestag des Kriegsendes vor Schülern dreier Gymnasien von seinen unfassbaren Erlebnissen. „Es ging allen unter die Haut. Das ist eben anders als ein Blick in das Geschichtsbuch“, sagt Renate Goetz.

Tage wie der heutige Holocaust-Gedenktag seien enorm wichtig, um sich an all die Schrecken der Nazi-Diktatur zu erinnern – „damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Das Böse hat ohne Erinnern wieder Zukunft“, sagt sie. Dass die Alternative für Deutschland im Bundestag sitzt, sei für sie kaum zu ertragen.

2014 starb Siegfried Rosenthal im Alter von 94 Jahren. „Zu seinem 94. Geburtstag durfte ich noch neben ihm sitzen“, sagt sie. Der Briefverkehr mit ihm füllt heute ganze Ordner. „Jedes Gespräch, jeder Brief war gut. Der Mann war eine Bereicherung für mein Leben“, sagt sie. Unzählige Male besuchten sich beide Familien. Sicher 30 Mal, schätzt sie, sei sie in Portugal gewesen. Noch heute steht Renate Goetz im engen Verhältnis zu seiner Tochter Anita und den drei Söhnen. Derzeit ist sie mit Ehemann Ulrich wieder in Portugal. Das Land lässt sie nicht los.

Die Recherche zu den Juden in Wernigerode hat sie nun beendet. Mit einer Broschüre über jüdische Familien und jüdisches Leben in Wernigerode sehe sie ihre Arbeit als abgeschlossen an.

„Das wichtigste ist die Lebensgeschichte dieser Menschen zu kennen. Denn es sind Menschen wie wir alle. Nur wegen ihrer Geburt und Herkunft mussten sie so ein Schicksal erleiden“, sagt sie. „Wir haben in Wernigerode viele Zeichen gesetzt. Wenn unsere Lehrer in den Schulen das nutzen und weiter erinnern, dann würde es mich freuen.“

Die Stadt Wernigerode wird gemeinsam mit dem Landkreis Harz der zahllosen Kriegsopfer gedenken und lädt am Sonnabend, 27. Januar, um 10.30 Uhr in die Mahn- und Gedenkstätte am Veckenstedter Weg 43 zu einer Gedenkstunde ein.