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Syrischer Friseur Endlich ein Hahn im Hühnerstall

Getuschel und verstohlene Blicke unter der Trockenhaube: Erstmals arbeitet ein Mann im Wernigeröder Friseursalon. Er ist ein Flüchtling.

Von Sandra Reulecke 15.10.2016, 01:01

Wernigerode l Fremdes Land, fremde Sprache – aber der Beruf ist gleich geblieben. Alaa Jergos startet in Wernigerode einen Neuanfang nach der Flucht. Der 21-Jährige stammt aus Syrien und baut sich nun ein Leben im Harz auf. Ein Schritt, der ihm dafür besonders wichtig war, ist geglückt: Er hat einen Job gefunden.

Seit Anfang des Monats frisiert er im Salon Marita in Wernigerode. Ein ungewohntes Bild für Kunden und Team gleichermaßen: Alaa Jergos ist der erste männliche Mitarbeiter. „Endlich ein Mann für den Hühnerhaufen“, sagt Claudia Thiele lachend. Wie die meisten Kunden ist die Braunschweigerin neugierig auf die Lebensgeschichte des Friseurs.

Der junge Mann ist einem Vorort der Hauptstadt Damaskus aufgewachsen. Aufgrund der politischen Lage hat er vor einem Jahr beschlossen, aus der Heimat zu fliehen. „Meine Familie war traurig darüber, aber sie wusste, dass es das Beste war“, berichtet Alaa Jergos. „Ich hatte befürchtet, in die Armee eingezogen zu werden. Aber in der Armee haben Christen keinen guten Stand. Sie werden bei Kämpfen in die vorderste Reihe gestellt.“ Nur etwa zehn Prozent der syrischen Bevölkerung sind Christen. Früher sei dies kein Problem gewesen, Religion habe im gesellschaftlichem Leben keine Rolle gespielt, berichtet der 21-Jährige. Seit dem Krieg habe sich das Bild gewandelt.

Hinzu kam die Zerstörung der Stadt, die ständige Gefahr von Bomben und Angriffen. Also floh Jergos. Mit dem Auto ging es zunächst nach Beirut, die Hauptstadt des Libanon, per Schiff in die Türkei, weiter über die Balkanroute bis nach Deutschland. 15 Tage dauerte die Reise ins Ungewisse. Zunächst kam er in einer Flüchtlingsunterkunft in Aschaffenburg unter.

Dank Kontakten zum Wernigeröder Interkulturellen Netzwerk, konnten Jergos und vier seiner Landsleute in Wernigerode Fuß fassen. Mithilfe des Netzwerkes und der Katholischen Kirchengemeinde St. Marien haben die Männer mittlerweile eigene Wohnungen bezogen und Asylanträge gestellt – Jergos hat seit März ein dreijähriges Aufenthaltsrecht. Zu den Betreuern der Syrer gehört Werner Kropf. Der Argraingenieurökonom aus Wernigerode war beruflich viele Jahre in Ägypten sowie im Jemen tätig und spricht fließend Arabisch.

Noch ist Kropf quasi das Sprachrohr von Alaa Jergos. Der Syrer spricht bislang nur wenig, er besucht erst seit April einen Deutschkurs. „Es ist sehr schwer“, lässt er von Werner Kropf ausrichten. Der Flüchtling hat keinerlei Fremdsprachenkenntnisse. Selbst das Alphabet muss er nun neu lernen. Denn während in Deutschland lateinische Buchstaben verwendet werden, besteht die arabische Schrift aus 28 verschiedenen Zeichen. Die Lese- und Schreibrichtung ist seitenverkehrt.

„Aber er versteht schon viel und mit der Zeit wird das schon werden“, sagt Marita Ahrend optimistisch. Alaa Jergos kam auf sie zu und fragte, ob er ein Praktikum im Salon absolvieren darf. Von einer Bekannten hatte er gehört, dass der Salon sehr gut und die Mitarbeiterinnen nett seien. Die Courage des jungen Mannes beeindruckte die Chefin, für sie stand fest, dass sie ihm helfen möchte. „Man kann nur in einer Stadt und einem Land heimisch werden, wenn man arbeitet und Kontakt zu den Menschen bekommt“, sagt die Friseurmeisterin. Aber sie wollte das Team in die Entscheidung mit einbeziehen. „Alle waren sofort einverstanden. Es hätte nichts gebracht, wenn wir nicht alle hinter dieser Entscheidung gestanden hätten“, betont sie.

Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, weiß Werner Kropf. Während seines Engagements für andere Flüchtlinge ist er bereits auf Ablehnung gestoßen, wenn sich die Asylsuchenden um einen Praktikums- oder Arbeitsplatz bemüht haben.

Auch im Salon Marita gab es nicht nur positive Reaktionen auf den Neuzugang. „Wahrscheinlich rührt die Ablehnung von Unsicherheit und Unwissenheit“, sagt Mitarbeiterin Kerstin Stieglitz. Doch die meisten Kunden seien vielmehr neugierig und begrüßen die Anstellung. Zumal der Syrer mit den Wuschelhaaren, den dunklen Augen, den Tätowierungen und dem breiten Lächeln bei der weiblichen Kundschaft gut ankommt, sagt die Friseurin. „Es ist spannend, zum ersten Mal mit einem Mann zu arbeiten, er ist eine Bereicherung für den Salon.“

Besonders seine Föhntechnik beeindruckt seine deutschen Kolleginnen. „Wenn er die Haare föhnt, hält die Frisur tagelang. So können wir das nicht“, gesteht Marita Ahrend.

Sein Handwerk hat Alaa Jergos in der Heimat gelernt. Als 15-Jähriger, nach neun Pflichtschuljahren, begann er seine Ausbildung. Im Gegensatz zu Deutschland, gehört in Syrien keine Berufsschule oder Abschlussprüfung dazu, informiert er. Ein Lehrling sieht den erfahrenen Kollegen über die Schulter und erledigt Hilfsarbeiten. Nach eineinhalb Jahren darf er selbst Kunden frisieren. Insgesamt dauert die Lehre drei Jahre.

In Deutschland wird diese Berufsausbildung nicht anerkannt. „Ich möchte dafür sorgen, dass er seinen Abschluss nachholen kann, und habe mich erkundigt, welche Möglichkeiten es dafür gibt“, sagt Marita Ahrend. Zunächst einmal müsse der Friseur jedoch an seinen Sprachkenntnissen arbeiten – mit Unterstützung seiner Kolleginnen.

„Noch ist das eine ziemliche Herausforderung. Wie bringt man jemanden eine andere Sprache bei?“, fragt Kerstin Stieglitz. Antwort erhält sie dank des Dolmetschers: Langsam und deutlich sprechen, Gegenstände zeigen und beschriften. „Wir sind sehr froh, mit Herrn Kropf einen Übersetzer und Landeskenner zu haben“, sagt Marita Ahrend.

Mit ihm sei es einfacher, einander kennenzulernen und kulturelle Unterschiede zu erläutern. So groß seien die gar nicht, versichert Jergos. Eines ist ihm jedoch aufgefallen: „Es ist schwieriger mit Deutschen ins Gespräch zu kommen – und das hat nicht nur etwas mit der Sprache zu tun.“ Grundsätzlich fühle er sich in Wernigerode aber sehr wohl. „Es ist eine schöne Stadt“, schwärmt er. „Fast wie zu Hause, dank der netten Menschen, die sich um mich kümmern.“ Im Fitnesstudio und der Kirchengemeinde hat er erste Freundschaften geschlossen – und er hofft, dass es durch die Arbeit mehr werden.

Er sei froh, wieder einer gewohnten Tätigkeit nachzugehen – das gebe ein Stück Sicherheit in seinem neuen Leben. „Die Arbeit unterscheidet sich nicht so sehr zu der in Syrien“, sagt er. Eines ist aber eine große Umstellung: In Syrien hat er ausschließlich mit Männern zusammengearbeitet. „Aber die Atmosphäre ist hier besser“, versichert er und lächelt.