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Fahrlässige Tötung Warten auf die Bewährungsauflage

Walburga Rößling hadert mit der Justiz. Mehr noch: Die Frau aus Klein
Quenstedt bei Halberstadt ist empört, dass ein wegen fahrlässiger Tötung
ihres Sohnes Philipp verurteilter Straftäter seit April 2013 gegen
Bewährungsauflagen verstößt, ohne dass die Justiz einschreitet.

Von Dennis Lotzmann 08.09.2014, 03:27

Klein Quenstedt l Wie groß ist die Chance, dass Geldauflagen, die Richter bei einer Bewährungsstrafe verhängen, tatsächlich gezahlt werden? Ein Tötungsdelikt aus dem Harz macht einerseits deutlich, wie schwierig es für Nebenkläger sein kann, die per Urteil zugesprochenen Zahlungen zu erhalten. Andererseits zeigt der Fall exemplarisch, wie schwierig es selbst für die Justiz ist, die Verurteilten in die Pflicht zu nehmen.

Walburga Rößling aus Klein Quenstedt muss genau dies gerade persönlich erleben. Sie hat im Juni 2011 ihren damals 22 Jahre alten Sohn Philipp verloren. Obwohl die Bewährungsstrafe wegen fahrlässiger Tötung gegen Steven G. seit April 2013 rechtskräftig ist, verstößt G. seither Monat für Monat gegen die Bewährungsauflagen. Er soll an Walburga Rößling und ihren Sohn Alexander, die beide im Prozess als Nebenkläger auftraten, in monatlichen Raten jeweils 3600 Euro zahlen. "Ich habe bis heute noch keinen einzigen Cent bekommen", sagt die 51-Jährige und kritisiert die Justizbehörden: "Dort wird nichts unternommen, um den Täter zur Zahlung zu zwingen oder aber die Bewährung zu widerrufen und ihn in Haft zu nehmen."

Ein Vorwurf, den der Halberstädter Amtsgerichts-Direktor Frithjof Büttner so nicht stehen lassen will. Die Verantwortlichen seiner Behörde seien seit Wochen dabei, den Verstoß gegen die Bewährungsauflagen zu prüfen. Allerdings seien die Hürden, G. zur Zahlung zu zwingen oder die Bewährung tatsächlich zu widerrufen, recht hoch, räumt der Amtsgerichtsdirektor ein.

Eine für Walburga Rößling wenig erbauliche Perspektive. Dabei kämpft die 51-Jährige noch immer - gut drei Jahre nach dem tragischen Tod ihres Kindes - höchst emotional mit den Folgen dieser Tat.

Der Fall und die späteren Verhandlungen hatten nicht nur im Harz für Schlagzeilen und Betroffenheit gesorgt. Philipp Rößling und Steven G. hatten an jenem 4. Juni 2011 zusammen mit einem weiteren Kumpel eine Party gefeiert. Nachdem sich der Freund gegen 23 Uhr verabschiedet hatte, wollten Steven und Philipp Jugendliche, die auf einer Wiese am Dorfrand zelteten, erschrecken.

Eine fatale Idee. In der Urteilsschrift wird ausführlich beschrieben, was damals passierte: Philipp kletterte auf einen Baum, stürzte ab und verletzte sich. Während die Jugendlichen einen Arzt rufen wollten, hielt G. sie davon ab. Er meinte, dass sein Kumpel nur seinen Rausch ausschlafen müsse und verfrachtete ihn kurzerhand in dessen Auto. Dort ließ er den Ohnmächtigen hilflos zurück. Selbst am nächsten Vormittag, einem glühend heißen Junitag, reagierte G. nicht und überließ den hilflosen Philipp seinem Schicksal. Stunden später kam jede Hilfe zu spät.

Auch Friedrich Wiesehöfer, der Rechtsanwalt von Nebenklägerin Walburga Rößling, ist entsetzt: "So einen Fall und so ein Verfahren habe ich in meiner 30-jährigen Anwaltstätigkeit noch nicht erlebt", sagt der Jurist. "Wäre nur ein Punkt, nur ein Detail, anders gelaufen, könnte Philipp Rößling heute noch leben."

Entsetzt ist der Anwalt jedoch nicht nur über die Tat, sondern auch über das juristische Verfahren im Anschluss: "Wir haben es hier mit einem Verfahren zu tun, das wegen unterlassener Hilfeleistung - was eher eine Bagatelle ist - beginnt und schließlich vor dem Schwurgericht endet", berichtet der Jurist.

Nach Wiesehöfers Worten laufen die Ermittlungen gegen Steven G. zunächst nur wegen unterlassener Hilfeleistung. Ein zu lascher Vorwurf, wie der Anwalt meint. Die Staatsanwaltschaft klagt G. schließlich wegen fahrlässiger Tötung vor dem Amtsgericht Halberstadt an. Dort wird G. im Herbst 2011 verurteilt: Der 21-Jährige soll, obwohl er längst keine blütenreine Weste mehr hat, 1200 Euro zahlen.

Das Verfahren geht vor dem Landgericht Magdeburg in die Berufung und landet schließlich vor der Schwurgerichts-Kammer. Dort fällt im September 2012 das Urteil: Ein Jahr und einen Monat Haft - bei Zahlung von 7200 Euro an die Nebenkläger für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Walburga Rößling will sich auch mit diesem Urteil nicht zufrieden geben und geht vor dem Bundesgerichtshof in Revision.

Ein erfolgloser Schritt, der mit weiteren Kosten verbunden ist. Weil sie verliert, muss die Nebenklägerin nun die Anwaltskosten des verurteilten Steven G. tragen. 637 Euro, die sich mit Zinsen auf 667 Euro summieren, weil der Kostenbescheid erst nach acht Monaten das hiesige Amtsgericht verlässt. Warum das so ist, bleibt heute auch für Gerichtsdirektor Büttner unerklärlich.

Während die Anwältin von Steven G. auf ihren 667 Euro besteht - mittlerweile hat Walburga Rößling gezahlt -, haben sie und ihr Sohn Alexander von ihren jeweils 3600 Euro bis heute noch keinen Cent gesehen.

Die Chance, dass sich daran etwas ändert, scheint gering: Steven G. lebt nach eigener Darstellung seit März dieses Jahres von monatlich 353 Euro ALG II, besitzt keinen Führerschein und steht obendrein wohl auch bei seiner eigenen Anwältin noch mit 1100 Euro in der Kreide. Die monatlich 200 Euro an die beiden Nebenkläger könne er daher nicht zahlen, lässt er die Justizvertreter wissen.

Fakten, die der Halberstädter Strafrichter Holger Selig kritisch hinterfragen will. Er lädt nach Büttners Worten Steven G. am 4. August zur Anhörung vor, will ihm eine Bewährungshelferin an die Seite geben. Der Termin findet statt, allein: Steven G. bleibt nach Büttners Worten unentschuldigt fern. Ein zweiter Anlauf soll am 15. September folgen.

Trotz des unentschuldigten Fehlens müsse G. gegenwärtig kaum Konsequenzen fürchten. Schon gar nicht den Widerruf der Bewährung und den Antritt der Haftstrafe, erklärt Büttner. "Nach oberster Rechtssprechung ist ein solcher Widerruf nur möglich, wenn vom Verurteilten eine unmittelbare Gefahr ausgeht", erklärt der Halberstädter Gerichtsdirektor. Allein der Verstoß gegen Zahlungsauflagen rechtfertige dies nicht. Weise der Verurteilte nach, dass er unverschuldet in diese finanzielle Schieflage geriet und nun alles unternimmt, um einen neuen Job zu finden, sei kaum etwas zu machen, erklärt Büttner. Denkbar seien allenfalls andere Bewährungsauflagen, beispielsweise gemeinnützige Arbeiten. "Aber wo kein Geld ist, ist einfach nichts zu holen. Die Chance, den Verurteilten zu packen, ist eher gering", so Büttner mit Blick auf die strafrechtlichen Möglichkeiten.

Fakten, die für Walburga Rößling den letzten Glauben in die Justiz erschüttern.