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Gedenken In Farsleben entkommt die Familie dem Tod

Joseph und Eliazen Schwartz sind aus New York nach Farsleben gereist. Dort strandete 1945 ein Zug mit 2400 Juden.

Von Gudrun Billowie 28.12.2018, 00:01

Wolmirstedt l Eliazen Schwartz ist 19 Jahre alt und lebt in New York. Im nächsten Jahr möchte er heiraten. „Bei uns ist es üblich, auch die verstorbenen Familienmitglieder zur Hochzeit einzuladen, ihre Seelen dabeizuhaben“, erzählt der Thora-Student. Deshalb hat er sich mit seinem Vater Joseph von Amerika aus auf den Weg in die Börde gemacht, nach Hillersleben und Farsleben.

In Hillersleben liegt der Großvater begraben. Er gehörte zu den gut 2400 Juden, die im April 1945 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen nach Theresienstadt gebracht werden sollten. Doch der Zug ist in Farsleben stehengeblieben. Das Kriegsende nahte, die Amerikaner waren in Sichtweite, die Insassen des Zuges wagten sich aus dem Zug, in die Freiheit. Für viele begann an diesem 13. April 1945 der Weg in ein neues Leben.

„Aus unserer Familie saßen 28 Mitglieder im Zug“, erzählt Joseph Schwartz. Dazu gehörten sein Vater, der damals gerade drei Jahre alt war, die Großmutter, der Urgroßvater. 27 haben überlebt, der Großvater ist gestorben. „Vermutlich an einem Zuckerschock“, meint Klaus-Peter Keweloh.

Der Hillersleber kümmert sich um das Andenken der Zuginsassen, die in Hillersleben begraben sind, denn viele haben dort und in Farsleben ihre letzte Ruhestätte gefunden, Hunger und Typhus hatten zu sehr an den Kräften gezehrt. „Die Amerikaner haben es wohl gut gemeint und dem Großvater Zucker gegeben, das habe der ausgemergelte Körper der Großvaters offenbar nicht verkraftet“, vermutet Klaus-Peter Keweloh.

Immer wieder kommen Überlebende dieses Transportes und deren Angehörige aus aller Welt in die Börde, werden von Klaus-Peter Keweloh oder dem Farsleber Ortsbürgermeister Rolf Knackmuß an die Gleise und auf die Friedhöfe in Farsleben und Hillersleben geführt. Diesmal haben sich auch die Geschichtslehrerin Karin Petersen, Museumsleiterin Anette Pilz und Gymnasiastin Johanna Mücke dazugesellt. Sie gehören zu denen, die diesem gestrandeten Zug ein Denkmal setzen möchten, ein sichtbares Zeichen, an dem sich Besucher orientieren, wo sie gedenken können.

Bisher deutet an der Bahnstrecke Wolmirstedt-Zielitz nichts auf die Ereignisse des 13. April 1945 hin. Die Stelle liegt im Nirgendwo in der Nähe des Moordahlsees, wer sie nicht kennt, hat keine Chance, sie zu orten. Deshalb soll es dort bald ein Monument geben, möglichst zum 75. Jahrestag, am 13. April 2020, soll es eingeweiht werden. Interessierte haben sich bereits zusammengefunden, haben ihrer Gruppe den Namen „Gestrandeter Zug“ gegeben und sind gerade dabei, einen Verein zu gründen. Vorsitzende wird Karin Petersen sein.

Noch wartet auf diesen Verein viel Arbeit, vor allem muss Geld akquiriert und die Form des Monuments festgelegt werden. Vielleicht wird es eine Bodenplatte, vielleicht eine Stele. Auch die Geschichten der Insassen sollen überliefert werden. Es gibt bereits Filme, Bücher und Zeitzeugenberichte, sie liegen zumeist in englischer Sprache vor. Deshalb werden Schülerinnen und Schüler des Kurfürst-Joachim-Friedrich-Gymnasiums sie ins Deutsche übersetzen. Zu ihnen gehört Johanna Mücke, die dieses Projekt zusammen mit Lina Schmidt beim Geschichtswettbewerb einreichen möchte. Die 16-Jährige verfolgt interessiert den Besuch von Vater und Sohn, Joseph und Eliazen Schwartz.

Auch für Karin Petersen war es die erste Begegnung mit Angehörigen. Die Geschichtslehrerin hat dieses Thema erst vor einigen Monaten für sich entdeckt und dieser gestrandete Zug lässt sie seither nicht mehr los. Sie hat unendlich viel recherchiert, Fakten und Geschichten zusammengetragen, verfügt inzwischen über Namenslisten der Zuginsassen, hat alle 28 Mitglieder der Familie Schwartz gefunden. Dennoch: Die Begegnung mit Joseph und Eliazen Schwartz berührt sie sehr. Sie hat gesehen, wie beide am Grab des Großvaters gebetet haben, hat sie zu den Bahngleisen und auf den Farsleber Friedhof begleitet, lauschte gebannt, was Vater und Sohn zu berichten hatten.

Die Familie Schwartz lebte in Ungarn, in zwei benachbarten Dörfern, bis sie von den Nazis ins Konzentrationslager deportiert wurde. „Die ganze Geschichte höre ich auf dieser Reise zum ersten Mal“, gesteht Eliazen Schwartz, der Bräutigam. Vater Joseph, der 46-jährige Kaufmann, war vor drei Jahren schon einmal in der Börde, mit seinem ältesten Sohn, vor dessen Hochzeit. Als er nun hörte, dass ein Ort des Erinnerns entstehen soll, hat er dafür spontan Geld gegeben.

Und der 19-jährige Eliazen? Wird auch er eines Tages mit seinem Sohn nach Hillersleben und Farsleben reisen, um die Vorfahren zu dessen Hochzeit zu bitten? „Ja“, sagt er, „das ist die Tradition.“

Karin Petersen strahlt. „Das zeigt, wie wichtig es ist, einen Ort des Erinnerns zu schaffen, denn diese Geschichte wird von Generation zu Generation weitergetragen.“