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Heimatgeschichte Jersleben produzierte bereits 1906 Natur-Strom

Jersleben wäre mit seiner Stromproduktion von 1906 auch heute noch fortschrittlich. Heimatfachmann Helgo Dreger weiß mehr daüber.

Von Sebastian Pötzsch 18.07.2023, 15:42
Die Mittelmühle am östlichen Ortsrand von Jersleben heute. Sie diente ab Anfang des 20. Jahrhunderts als Stromlieferant für den Ort.
Die Mittelmühle am östlichen Ortsrand von Jersleben heute. Sie diente ab Anfang des 20. Jahrhunderts als Stromlieferant für den Ort. Foto: Sebastian Pötzsch

Jersleben - Helgo Dreger interessiert sich für die Geschichte der Region um seinen Heimatort Jersleben. Nicht nur seine Sammlung alter Gebrauchsgegenstände sind ein Beweis. So hat sich der heutige Rentner offenbar mit dem einstigen Dorfchronisten und Lehrer Werner Kühn gutgestellt. „Er hat mir seinerzeit die von ihm verfasste Chronik überlassen. Und da finden sich einige interessante Details zu den Jersleber Wassermühlen“, sagt Helgo Dreger.

Zuerst zeigt er aber auf zwei Gerätschaften, die er vor Jahren aus einer der alten Mühlen im Ort erhalten hat. Dabei handelt es sich um eine große Eiszange, eine riesige Eisaxt sowie einen ebenfalls rund zwei Meter langen Eishaken. „Die wurden benutzt, um die Räder der Wassermühle eisfrei zu halten“, berichtet der Jersleber. Später seien in den Wintermonaten Eisquader aus dem Mühlengraben geborgen und für die Zeit über die Sommermonate tief in der Erde vergraben worden. „Das Eis wurde vor allem in den Brauereien in Wolmirstedt verwendet“, erzählt der Geschichtsinteressierte weiter.

Die Jersleber Mittelmühle auf einer Postkarte aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die Jersleber Mittelmühle auf einer Postkarte aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Foto: Archiv Dreger/Repro: Pötzsch

Die Bauern konnten von nun an ihr Getreide vor Ort mahlen lassen und haben sich die langen Wege, zum Beispiel nach Wolmirstedt, erspart.

Hobbyarchivar Helgo Dreger

Anschließend beginnt er, in der Chronik von Werner Kühn zu blättern. Daraus berichtet er, dass das Wasser des Flusses Ohre und die gefurchte Talsenke der Hauptgrund war, dass Menschen hier seit jeher siedelten. „In der heutigen Schreibweise wird das Dorf Jersleben erstmals 1286 erwähnt. In dem Jahr schenkten die Markgrafen Otto und Konrad von Brandenburg dem Kloster Sankt Agnes in der Neustadt Magdeburg eine Mühle in Jersleve“, liest Dreger aus der Chronik vor. Die Lage direkt an der Ohre in der Talsenke erschien ideal.

Beide Mühlen sind heute nicht mehr in Betrieb

Denn die Mühle, bei der es sich wohl um den Vorgänger der heutigen Herrenmühle im Nordwesten des Dorfes handelt, ist offenbar ebenfalls im Jahr 1286 erbaut worden. Dies habe sich laut Chronik aus einer Urkunde des Staatsarchivs aus dem Jahr 1248 herleiten lassen. Darin hieß es: „Boven (oberhalb) dem Dorpe (Dorf) to Jersleve“. „Heute fließt die Ohre weiter nördlich an Jersleben vorbei, weil der Fluss mal begradigt worden ist“, berichtet Helgo Dreger und fügt hinzu: „Der alte Flusslauf direkt am Dorf wird heute als Mühlengraben bezeichnet.“

Dann wendet sich der Heimatfreund der Bedeutung der ersten Mühle im alten Jersleben zu: „Die Bauern konnten von nun an ihr Getreide vor Ort mahlen lassen und haben sich die langen Wege, zum Beispiel nach Wolmirstedt, erspart.“ Um den steigenden Bedarf zu decken, ist im Laufe der Jahrhunderte mindestens eine Wassermühle hinzugekommen. Dabei handelt es sich um die im Jahr 1643 erbaute und noch immer existierende Mittelmühle im äußersten Osten der Ortschaft.

Beide Mühlen sind nicht mehr in Betrieb, doch deren einstige Bedeutung erschließt sich bis heute im Wappen des Dorfes. Dort ist ein Mühlrad abgebildet und zwei blaue Bänder, die die Ohre und den Mittellandkanal darstellen.

1906 gingen in Jersleben die Lampen an

Der Mittelmühle kam zu Beginn der vergangenen Jahrhunderts eine weitere Bedeutung zu. Dazu heißt es in der Chronik zunächst: „Eine wahre Revolutionierung im Leben der Dorfbewohner bedeutet das elektrische Licht, welches im Jahr 1905 beziehungsweise 1906 die Wachskerze ablöste.“ Die dafür benötigte Energie lieferte die Mittelmühle. Diese wurde zum wasserbetriebenen Elektrizitätswerk.

Helgo Dreger hat ein ganz besonderes Schriftstück in seinem Archiv. Dabei handelt es sich um den Originalvertrag zwischen Eduard Müller und der Gemeinde Jersleben aus dem Jahr 1906. Demnach verpflichtete sich der Betreiber der Mittelmühle, „die Lieferung von elektrischem Strom in ausreichender Masse und zwar für a) Kraftübertragung am Tage, b) für elektrische Beleuchtung nach Sonnenuntergang zu übernehmen...“, ist dem Papier zu entnehmen. „Frei- und Anschlussleitungen bis zu den Gebäuden der Stromnutzer musste der Müller selbst übernehmen“, sagt Helgo Dreger.

Für die Beleuchtung mussten 60 Pfennige pro Kilowattstunde an den Müller gezahlt werden, „für Kraftübertragung wird der Strom zum Preis von 0,3 Mark abgegeben“, ist dem Vertrag weiter zu entnehmen. Zur Berechnung des Gesamtstrompreises mussten die „Konsumenten“ einen „Elektrizitätszähler“ der Firma „Zwirner & Dorff“ aus Magdeburg erwerben.

Die Mühlen sind sanierungsbedürftig

Wer weniger als drei Glühlampen betrieb, konnte auf den Zähler verzichten. Für jene beliefen sich die jährlichen Kosten auf 12 Mark für eine schwächere Glühlampe und 45 Mark für drei stärkere Glühlampen. „Bei etwa eintretender Zahlungsverweigerung steht dem Inhaber des Werkes das Recht zu, die Lieferung von Strom so lange zu unterbrechen, bis die Zahlung erfolgt ist“, wurde in dem Kontrakt ebenfalls festgehalten. Jeder Abnehmer musste sich zudem verpflichten, jedes Jahr „pro installierter Normalkerze“ mindestens 20 Pfennige elektrischen Strom abzunehmen. „Normalkerze“ steht für eine früher gebräuchliche Einheit der Lichtstärke.

Doch wurde in der Mittelmühle tatsächlich zuletzt nicht nur Strom produziert, weiß Helgo Dreger. „Noch bis in die 1960er Jahre wurde Korn zu Mehl vermahlen“, sagt der Geschichtsinteressierte.

Heute sind beide Wassermühlen in einem sanierungsbedürftigem Zustand. Doch auf den Höfen spielt sich noch immer Leben ab. Beide Gebäudeensembles sind von mehreren Familien bewohnt.