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Flüchtlinge Zerbster hilft in Budapest

„Wer, wenn nicht wir, könnte die Flüchtlinge aufnehmen?“ Das sagt Pfarrer Fabian Groh.

Von Daniela Apel 09.09.2015, 15:51

Zerbst l Noch immer ist Fabian Groh mit der Verarbeitung der überwältigenden Eindrücke vom Budapester Ostbahnhof beschäftigt. Schon vorher haben ihn die Bilder der vielen Flüchtlinge bewegt, die tagtäglich in den Medien auftauchten. Und Ungarn „ist nicht aus der Welt. Es ist ein EU-Land direkt vor der Haustür, das ich noch durch die Zugbegleitungen der Störche für den Storchenhof Loburg kenne“, sagt der gebürtige Zerbster, der seit fünf Jahren als Pfarrer in Thüringen tätig ist. „Da sind die Menschen für mich erreichbar und ich kann persönlich helfen“, begründet er seinen spontanen Entschluss. Als sich die Situation in Ungarn am vergangenen Freitag zuspitzte, entschloss sich der Familienvater, dorthin aufzubrechen. Denn von Ziegenrück aus konnte er im Moment nicht mehr für die Flüchtlinge tun. Er packte sein Auto voll mit Nahrungsmitteln und Getränken und fuhr gegen halb Elf los.

Eine Strecke von über 850 Kilometern lag vor ihm und die Ungewissheit, was ihn erwartet. Kurz vor Budapest staute sich der Verkehr und zwischen all dem Blaulicht sah Fabian Groh tausende Frauen und Männer, Greise und Kinder, die von der Polizei abgeschirmt auf der Autobahn zu Fuß Richtung Österreich liefen. „Da war aber kein rankommen“, sagt er. So steuerte er weiter sein ursprüngliches Ziel an. Gegen 20 Uhr erreichte der 38-Jährige den Ostbahnhof. „Die Situation war gespenstisch“, erzählt er von vermummten Polizisten mit Schlagstöcken und Hunden. Zugleich kreisten wegen des Fußballspiels gegen den Hass-Gegner Rumänien und erwarteten Hooligans zwei Hubschrauber über dem Gelände.

Ganz in Schwarz gekleidet betrat der Pfarrer das Bahnhofsgebäude. Schon nach wenigen Stufen die Treppe hinab sah er „tausende von Menschen“, darunter viele Familien mit Babys und Kleinkindern sowie Schwangere und alte Leute wie jenen 74-jährigen Mann, der einen Katheter trug und neben seinem Rollstuhl auf der Erde ruhte. „Ich habe nur gedacht: ,Um Himmels Willen!‘“ Entweder saßen und lagen die Leute auf dem blanken Boden oder drängten sich zu fünft in die paar aufgestellten Zwei-Mann-Zelte. „Es war ganz dramatisch“, beschreibt er die Situation. Zumal zwar Journalisten vor Ort waren, aber kaum Helfer.

Sofort stürmten die ersten Flüchtlinge auf ihn zu. Als sie hörten, dass der Geistliche aus Deutschland ist, baten sie ihn, sie dorthin mitzunehmen. „Ich musste ihnen erklären, dass das nicht geht und zu gefährlich ist“, blickt Fabian Groh zurück. „Ich konnte nur zuhören“, sagt er. Doch genau das schien ihnen wichtig, jemanden zu treffen, der einfach für sie da ist. Auf Englisch verständigte sich der Zerbster mit den Menschen. „Manchmal haben wir auch nicht viel voneinander verstanden“, gesteht er. „Es gibt jedoch eine gemeinsame Sprache, die alle sprechen: das ist Liebe und füreinander da sein. Da braucht es keine Worte“, ergänzt der Pfarrer. Er begegnete ebenfalls einer jungen Ungarin. „Sie sagte mir, dass sie sich für ihr Land schäme.“

In der Nacht zum Sonnabend ging dann plötzlich alles ganz schnell. Nachdem Österreich und Deutschland erklärt hatten, die Flüchtlinge einreisen zu lassen, stellte die ungarische Regierung 100 Busse für ihren Abtransport bereit. „Wie ein Lauffeuer sprach sich das rum“, schildert Fabian Groh, wie die Menschen gegen 1 Uhr zu den Bussen eilten. „Allerdings waren viele gerade erst eingeschlafen“, erzählt der 38-Jährige, wie er die Leute wachrüttelte. Und er berichtet von den Befürchtungen mancher, in ein Lager abgeschoben zu werden. Zugleich war es für ihn nun an der Zeit, die mitgebrachten Sachen unter den Familien mit Kindern zu verteilen. Ungarische Studenten halfen ihm beim Tragen der Hilfsgüter.

Nachdem sich der Bahnhof geleert hatte, entschloss sich der Pfarrer nach Hause zurück zu fahren. Mittlerweile zeigte die Uhr 2.30 Uhr an. Hinter Budapest bremste ihn ein Stau aus und er entschied sich, auf einer Raststätte erstmal ein wenig zu schlafen. Gegen halb Sechs brach er schließlich nach Deutschland auf. Unterwegs kam er nicht nur an kaputten Flüchtlingsbussen vorbei. Sehr bewegt hat ihn der Anblick einer kleinen Haltebucht, vor der ein Polizeiauto stand. „Da lagen etwa 50 Leute im Regen auf dem Boden.“

Kurz vor 14 Uhr traf Fabian Groh wieder in Ziegenrück ein – eben noch rechtzeitig, um rasch den Talar für die anstehende Trauung anzuziehen. „Ich hatte weiche Knie“, gibt er zu. Als er nach der Vermählung die Kirche verließ, erreichte ihn ein Anruf der lokalen Flüchtlingsinitiative. Auf dem Saalfelder Bahnhof sollte ein Zug mit Flüchtlingen ankommen. Als jener gegen 20.45 Uhr einfuhr, stand der Pfarrer in der Bahnhofshalle. „Und es kamen die Leute vom Bahnsteig, die ich in Budapest in die Busse gesetzt hatte. Verrückt.“ Unter ihnen befanden sich ebenfalls jener 74-jährige Mann mit dem Katheter und sein Sohn. „Wir haben uns nur in die Augen gesehen und in die Arme genommen“, schildert Fabian Groh die „unbeschreibliche Situation“. Besonders gefreut hat ihn, wie gut die Einheimischen die Flüchtlinge an diesem Abend willkommen geheißen haben.

„Wir bekleckern uns aber nicht mir Ruhm, wie wir die Menschen aufnehmen“, meint Fabian Groh. Die Unterbringung in Zelten in der jetzt immer kühler werdenden Jahreszeit gehe gar nicht. „Haben wir keine leerstehenden Gebäude?“, fragt er. Und wenn nicht, dann sollten wenigstens die Kirchen mit festem Fußboden Asyl gewähren.

Traurig findet der 38-Jährige ebenfalls, dass die Flüchtlinge nicht nach ihren Zielen gefragt werden. Manche wollen nur zu ihren Verwandten, berichtet er beispielsweise von einer Frau, deren Tochter im hessischen Gießen lebt. Für sie müsste keine Unterkunft gefunden werden. „Wir schaffen uns unsere Probleme selbst“, findet er.

Zugleich wirbt Fabian Groh vehement für die Aufnahme von Flüchtlingen. „Wer, wenn nicht Deutschland, könnte sie aufnehmen?“, sagt er.