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Pogromgedenken Vergessen entzieht sich der Verantwortung

Gemeinsam gedachten in Zerbst etwa 60 Bürger am einstigen Standort der Synagoge der Pogromnacht vor 80 Jahren.

Von Silke Schmidt 11.11.2018, 23:01

Zerbst | Am Sonnabend gedenken in Zerbst am Standort der ehemaligen Synagoge Ecke Wolfsbrücke/Brüderstraße etwa 60 Menschen den Opfern der Pogromnacht vom 10. November 1938. Zum 80. Mal jährt sich dieses Datum, das sich einreiht in die schrecklichen Ereignisse, die 1938 seit dem 7. November in Deutschland geschahen. Die Tage im November markierten einen Wendepunkt. Sie leiteten den Übergang von der lange vorher tradierten Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 hin zu systematischer Verfolgung und Ermordung ein.

„Was ist von der Zerbster Jüdischen Gemeinde geblieben?“, fragt Bürgermeister Andreas Dittmann. Nur noch der jüdische Friedhof und die Stolpersteine auf den Fußwegen erinnern an jüdisches Leben. Schüler des Gymnasiums Francisceum lesen die Namen der ermordeten Zerbster Juden vor.

„Wir dürfen nicht vergessen, was heute vor 80 Jahren in Zerbst geschah. Denn Vergessen entzieht sich der Verantwortung“, mahnt Pfarrer Lutz Michael Sylvester. „Unsere Stadt, unser Land, unsere Demokratie braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen.“ Andreas Dittmann greift die Worte auf und führt an, wie Alexander Gauland, Fraktionschef der Afd im Deutschen Bundestag, erklärte: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“.

In Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Israel, erinnert jeder Raum in erschreckender Weise an die Gräueltaten des Nationalsozialismus. Dittmann selbst hatte diese Gedenkstätte besucht und berichtet vom Raum für die ermordeten Kinder. Die Namen der Kinder werden dort verlesen und Kerzen spiegeln dabei ihr Licht in die endlose Tiefe des Raumes.

„Versetzen Sie sich gedanklich nach Yad Vashem, und versuchen Sie mal diesen Satz vom Vogelschiss zu wiederholen“, führt Dittmann weiterhin aus und fügt hinzu: „Wenn Sie das nicht können, wenn Sie nicht die zynische Kaltschnäuzigkeit haben, in einer solchen Situation solchen Unsinn zu sagen, dann haben Sie aus der Geschichte gelernt“.

Wie aber umgehen mit diesem Teil der Geschichte? Es ist Teil unserer Geschichte. Teil unseres Erbes. „Aber Teil unseres Erbes sind eben auch Hitler, Göbbels, Eichmann, die Ermordung von sechs Millionen Juden und das Auslösen von zwei Weltkriegen“, gibt Dittmann eine Antwort. „Mit diesen Erbteil zu leben, tut weh“. Eine Gedenkveranstaltung dürfe nicht in einer Rückschau enden, sondern damit beginnen, gerade mit Blick auf die heutigen Ereignisse.

„Wir müssen hellhörig werden, wenn ein Poggenburg im Landtag von Sachsen-Anhalt von Wucherungen am deutschen Volkskörper schwadroniert. Wir müssen gewahr werden, dass wir bereits wieder mitten drin sind, Schuldige zu suchen. Nur diesmal sind es nicht die Juden. Wir hören, dass Geflüchtete und Ausländer die Schuld an allen Problemen tragen“, betont Dittmann.

Die Aufnahme von Geflüchteten habe viele Herausforderungen gebracht, für die noch keine zufriedenstellenden Lösungen gefunden worden sei. Es gehöre auch dazu, dass sich Hilfesuchende, die Aufnahme finden, integrieren und die hiesige Kultur akzeptieren. Dazu müsse man ihnen aber auch die Chance geben, führte der Zerbster Bürgermeister weiter aus und verweist auf die stattdessen stattfindenden Diskussionen, die von Neid und Missgunst geprägt seien und die große Hilfsbereitschaft vieler Menschen medial überlagerten. „Wir müssen uns den damaligen Weg, der zu solchen Exzessen führte, ins Bewusstsein rufen, damit wir mit ausreichend Widerstandskraft ausgestattet sind, damit unser humanistisches Immunsystem funktioniert“, so Andreas Dittmann.