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Gerichtsprozess Schuhe beim Laufen verloren?

Am Schöffengericht Zerbst entwickelt sich ein Raub mit gefährlicher Körperverletzung zu einer unglaublichen Geschichte.

Von Bernd Kaufholz 22.06.2017, 04:00

Zerbst l Der Vorsitzende des Zerbster Schöffengerichts, Andreas van Herck, hat nach knapp zwei Stunden einen Raub-Prozess unterbrochen und zwei neue Termine angesetzt. Grund dafür war die Aussage des Opfers und einzigen „Belastungszeugen“. Der 31-Jährige bot den Prozessbeteiligten eine Version des Geschehens vor einem Dreivierteljahr an, die mehr als unwahrscheinlich klang und kehrte damit seine Anzeige, die er nach der Tat bei der Polizei gemacht hatte, ins Gegenteil um.

Der Dessauer Staatsanwalt Gunnar von Wolffersdorff hatte Matthias J. (35) und Maik L. (33) angeklagt, dem 31 Jahre alten Magdeburger am 10. September 2016 eine Umhängetasche, in der sich Schlüsselbund, Smartphone, Ausweispapiere und 280 Euro befunden hatten, geraubt zu haben. Außerdem habe das Duo dem Opfer die Nike-Schuhe ausgezogen und ebenfalls mitgehen lassen.

Das Ganze habe sich in Zerbst zwischen Nuthebrücke und Tankstelle abgespielt. Die Täter seien mit dem Auto vorgefahren, J. sei ausgestiegen und habe das Opfer, das zu Fuß unterwegs gewesen war, mit einem gezielten Faustschlag niedergestreckt. L. habe derweil „Schmiere gestanden“. Nach dem Fausthieb, habe J. den Magdeburger in ein Gebüsch gezerrt und weiter auf ihn eingeschlagen und -getreten, an den Kopf und gegen die Rippen. „Nach dem Strafgesetzbuch handelt es sich um gemeinschaftlichen Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung“, fasste der Staatsanwalt zusammen.

Dass am ersten Prozesstag nicht die Angeklagten im Fokus des Interesses standen, lag weniger daran, dass Matthias J. und Maik L. schwiegen, vielmehr an der Aussage des „Belastungszeugen“. Er gab gleich zu Beginn seiner Befragung zu Protokoll, dass die Angeklagten und er langjährige Freunde sind. Auf die Frage des Vorsitzenden: „Immer noch?“, antwortete Lars K.: „Ja, immer noch.“

Und so sah dann auch die Schilderung des Tatgeschehens aus, das aus seiner Sicht gar kein Tatgeschehen war, weil es an einer Tat mangelte. „Es ist alles nicht so gewesen, wie ich es bei der Polizei erzählt habe. Ich habe meine Anzeige doch nach ein paar Tagen zurückgezogen. Ich weiß gar nicht, warum wir hier heute sitzen.“

Amtsgerichtsdirektor van Herck erklärte dem Zeugen, dass schweren Straftaten, wozu Raub gehöre, „Offizialdelikte“ seien, die auch verfolgt würden, wenn sie vom Opfer nicht angezeigt werden.

Dann erzählte K. seine ebenso interessante, wie abstruse Version des Vorgangs unweit der Stadtmauer. „Ich hatte Schulden bei J. Er hatte mir vor zwei Jahren 250 Euro für die Mietkaution geliehen, als ich von Zerbst nach Magdeburg gezogen bin. Ich hatte mich seitdem nicht mehr gemeldet. J. hat ein paarmal Stress am Telefon gemacht, weil er das Geld wiederhaben wollte.“

Als er am 10. September 2016 mit seiner Freundin bei Mutter und Schwiegereltern zu Besuch in Zerbst gewesen sei, habe er das Auto seines Freundes gesehen. Als er anhielt, habe er Angst bekommen und sei weggelaufen. „Dabei habe ich meine Tasche verloren.“ Van Herck: „Und die Schuhe?“ Die habe ich beim Wegrennen von den Füßen verloren.“ Als Antwort auf das ungläubige Gesicht des Vorsitzenden: „Das ist mir schon öfter passiert.“

Warum er kurze Zeit später auf Strümpfen auf dem Polizeirevier aufgetaucht war und seine Freunde angezeigt hatte, ihn beraubt zu haben (Was der Polizeiobermeister, der das Protokoll aufgenommen hatte, im Zeugenstand bestätigte), wurde nicht so richtig klar. Allerdings sei das sowieso Schnee von gestern, denn noch am selben Tag seien seine beiden Freunde, die Schuhe und Tasche gefunden hatten, bei seiner Mutter aufgetaucht, um die Sachen zurück zu geben. Selbst die 280 Euro seien noch da gewesen. Die Schulden habe J. nicht gleich einbehalten.

Der Staatsanwalt sah sich genötigt, den Zeugen darauf hin zu weisen, dass er sich – so er bei seiner gerichtlichen Aussage bliebe – bei der Polizei einer „falschen Verdächtigung“ schuldig gemacht hat. „Haben sie aber heute gelogen, war es möglicherweise eine uneidliche Falschaussage.“ Beides sei strafbar. Noch habe er Zeit, seine Aussage zu revidieren. Aber der Neu-Magdeburger blieb bei seiner Weglauf-und-Sachen-verloren-Version. Selbst noch, als ihm Fotos seiner damaligen Verletzungen gezeigt wurden, die, wie er dem Schöffengericht erklärte, vom Sturz über einen Stein während der Flucht in den Park, stammen. Was aus Sicht des Vorsitzenden eher unwahrscheinlich ist.

Van Herck setzte für den 10. Juli einen zweiten Termin an. Dann sollen weitere Zeugen gehört werden: die Mutter des Nicht-Opfers, seine Freundin, der Arzt, der ihn untersucht hatte, nachdem er mit dem Rettungswagen in die Klinik gefahren worden war und ein Rechtsmediziner, der anhand der Fotos Aussagen treffen soll, woher die Verletzungen stammen.