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Caritas-Mitarbeiter Hans-Peter Schulze berät Opfer von DDR-Unrecht in Dessau / Betroffene leiden bis heute Verfolgung durch Stasi: Wer war Opfer, wer Täter?

20.10.2012, 01:15

Die eigene DDR-Vergangenheit kann psychische Traumata hervorrufen. Hans-Peter Schulze berät für die Caritas zum DDR-Unrecht. Er erklärt, worunter Opfer bis heute leiden.

Volksstimme: Sie bieten Sprechstunden im Auftrag des Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen an. Die Menschen rennen Ihnen die Türen ein?

Hans-Peter Schulze: Wir von der Caritas bieten psychosoziale Betreuung für die Opfer der DDR und haben seit zehn Jahren eine Kooperation mit dem Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen. Zu unseren Beratungstagen kommen bis zu 30 Leute. In Wittenberg waren sogar mal 200. In diesem Jahr kamen in Sachsen-Anhalt schon 1350 Menschen zu uns.

Volksstimme: Worunter leiden Menschen, die in der DDR im Gefängnis waren?

Hans-Peter Schulze: Sie leiden bis heute unter den "Haftfolgeschäden". Jene, die zu stalinistischen Zeiten im Gefängnis waren, traf es hart. Da gab es noch die Todesstrafe und Zwangsarbeit. Andere kamen ins Zuchthaus, wurden verschleppt und haben sehr lange Strafen verbüßt. Ab den 70er Jahren arbeitete man mit Schlafentzug, Lichtbestrahlung, Verweigern von Schmerzmitteln.

Volksstimme: Wie arbeiten Menschen ihre Vergangenheit auf, die anderweitig in Konflikt mit der DDR gekommen sind?

Hans-Peter Schulze: Neben den finanziellen Ansprüchen, müssen die Menschen ihre Geschichte erzählen, über die sie die ganze Zeit nicht sprechen durften. Menschen, die über ihre Fluchterfahrung sprechen wollen, kommen zu mir. Wir beraten auch jene, die direkt vom Psychiater kommen und sich im Alltag begleiten lassen. Sie haben zum Beispiel Schlafstörungen, Angstzustände und Alpträume. Die Sprechstunden sind eine Mischung aus Beratung und Psychotherapie.

Volksstimme: Aber nicht jeder gesteht sich ein, dass er ein Problem hat.

Hans-Peter Schulze: Viele ahnen, dass ihre Angstzustände mit dem DDR-Unrecht zu tun haben. Daher sind die Anträge, die die Betroffenen auf Einsicht ihrer Stasi-Akten bei uns stellen, Türöffner, um über die eigene Vergangenheit zu sprechen. Viele trauen sich nicht zum Psychologen zu gehen.

Volksstimme: Wie kann ich heute einschätzen, ob mich die Stasi überhaupt observiert hat?

Hans-Peter Schulze: Mit dem Staat in Konflikt zu kommen, konnte schnell gehen. Da waren junge Leute, die gegen das "Passgesetz" verstoßen haben, die einfach raus wollten. Aber auch wer seine Meinung sagte, war im Blick der Stasi. Über ein Drittel der DDR-Bevölkerung wurden Stasi-Akten geführt.

Volksstimme: Haben Sie eine?

Hans-Peter Schulze: Ja, ich war im Blick der Stasi, schon wegen der Arbeit für die Caritas. Dann erfuhr ich, wer mich bespitzelt hatte: Ein Mitglied einer bei der evangelischen Kirche agierenden Selbsthilfegruppe, in die er eingeschleust worden war. Mit ihm möchte ich nicht sprechen, weil er bis heute leugnet, "etwas Schlimmes getan zu haben".

Volksstimme: In der Akte sehe ich, wer mich bespitzelt hat?

Hans-Peter Schulze: Ja, zunächst stehen dort die Decknamen der Spitzel. Aber auf Antrag können die Decknamen offen gelegt werden. Die Spitzel haben ihr Grundrecht auf Datenschutz verwirkt, denn der Schaden beim Betroffenen wiegt schwerer.

Volksstimme: Wie gehen Menschen damit um, dass sie von Bekannten bespitzelt wurden?

Hans-Peter Schulze: Das ist sehr problematisch, aufgearbeitet werden solche Verhältnisse kaum. Aber IM zu werden, ging schnell. Da hat die Stasi mal eine Nachbarin gefragt und schon wird sie als IM in der Akte geführt. Da ist es schwer zu sagen, wer hier Täter und wer Opfer war. Oder ein Inhaftierter wurde gezwungen, der Stasi zuzuarbeiten. Kann man ihm das zum Vorwurf machen? Mich stört, dass nur auf die kleinen Leute geschaut wird und die als Täter bezeichnet werden. Aber die, die ganz oben saßen, werden nicht bestraft.

Volksstimme: Aber hätten all diese mitmachen müssen?

Hans-Peter Schulze: Heute ist klar, Viele hätten nicht mitmachen müssen. Klar gab es Leute, die erpresst wurden. Anderen verlieh die Mitarbeit bei der Stasi Befriedigung: "Da habe ich mich plötzlich wichtig gefühlt", sagen sie. Aber es gab auch Leute, die haben sich trickreich herausgewunden: Die erzählten laut: "Könnt Ihr euch vorstellen, gestern fragte mich die Stasi, ob ich mitarbeiten könne?" (lacht). Da hatte sich das natürlich erledigt.