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Werkmitarbeiter Zwischen allen Fronten

Der Betriebsrat der Anhalter Fleischwaren in Zerbst widerspricht einem Gewerkschafter, sich nicht um die Werkarbeiter zu kümmern.

Von Thomas Kirchner 24.07.2020, 01:01

Zerbst l In die Diskussion um den Corona-Ausbruch beim Schlachtbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück (Nordrhein-Westfalen), zu dem auch die Anhalter Fleischwaren in Zerbst gehören, mischt sich nun auch der Betriebsrat der Zerbster Niederlassung ein. Stein des Anstoßes ist immer wieder die Situation der Werkarbeiter – auch in Zerbst. Niedrige Löhne, unbezahlte Überstunden und die Unterbringung in Massenunterkünften sind deutschlandweit die Vorwürfe gegen diese Art der Beschäftigung.

Besonders sauer aufgestoßen hat die Aussage von Gewerkschafter Thomas Gawron von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Gawron hatte sich in einem Volksstimme-Beitrag (4. Juli) dahin gehend geäußert, dass sich der Betriebsrat bei den Anhalter Fleischwaren nach eigenen Angaben für die Werk- und Leiharbeiter nicht zuständig fühle. So sei eine Zusammenarbeit und eine daraus folgende Verbessrung der Lage für die betroffenen Mitarbeiter mit Werkverträgen nahezu unmöglich.

„Als erstes möchten wir gern wissen, woher der Kollege Thomas Gawron sein Wissen über den Zerbster Betriebsrat und unsere Firma hat“, fragt Gabriela Hübner, Vorsitzende des Betriebsrates bei den Anhalter Fleischwaren in Zerbst im Gespräch mit der Volksstimme. Gawron habe mit dem Betriebsrat seit März 2018 nicht mehr gesprochen.

„Nach seiner Aussage fühlt sich der Zerbster Betriebsrat für die Arbeitnehmer der Werkvertragspartner nicht zuständig. In seiner Funktion weiß er ganz genau, dass ein Betriebsrat für die Mitarbeiter von Werkvertragspartnern kein Mitbestimmungsrecht hat – also tatsächlich nicht zuständig ist und dass es dafür gesetzliche Regelungen gibt“, ärgert sich Hübner. Zahlreiche Kollegen, die Mitglied der NGG waren, seien bereits ausgetreten – auch wegen solcher Aussagen.

Eine Mitschuld an der Situation der Werkarbeiter trage die Politik, die die Möglichkeiten solcher Arbeitnehmerüberlassungen erst geschaffen habe und lange die Augen vor den Probleme verschlossen habe, gibt Gabriela Hübner zu Bedenken. Auf den Einwand, dass nur, weil es möglich ist, ein Unternehmer ja keine Arbeiter mit Werkverträgen beschäftigen muss, sagt Hübner: „Es ist schwierig, neues Personal zu gewinnen, trotz hoher Arbeitslosenzahl von über neun Prozent im Landkreis. Die Arbeit ist zum Teil körperlich schwer, und der Lohn ist auch nicht so besonders. Es will kein Deutscher hier arbeiten. Ich habe Achtung vor den Mitarbeitern mit Werkverträgen. Sie haben ihre Heimat verlassen und wollen sich hier eine neue Zukunft aufbauen.“

Sie betont, dass die Tür des Betriebsrates für alle Kollegen offen stehe. „Jeder, der Probleme und Sogen hat, kann sich natürlich an uns wenden, auch die Kollegen mit Werkverträgen“, so Hübner. Die betreffenden Kollegen seien im Team integriert und würden beispielsweise auch zu Betriebsfeiern eingeladen. „Im Übrigen haben wir im März nach dem Ausbruch der Pandemie sofort reagiert. Die wichtigste Herausforderung für uns bestand darin, die Gesund- heit aller Mitarbeiter zu schützen und gleichzeitig die Versor- gung mit Fleischprodukten zu ge- währleisten. Das ist uns gelungen, denn wir haben bisher keinen einzigen Corona-Infizierten zu verzeichnen“, so Hübner.

„Hierzu möchte ich anmerken, dass die Arbeitsbedingungen bei der Anhalter Fleischwaren GmbH grundsätzlich bekannt sind“, reagiert Thomas Gawron auf die Kritik des Betriebrates. „Regelmäßig beraten wir Mitglieder in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten in Bezug auf die Anhalter Fleischwaren, aber auch zu den dort tätigen Leih- und Werkvertragsfirmen“, schreibt der Gewerkschafter.

In den vergangenen Jahren habe die NGG wiederholt Ansprüche von Mitgliedern arbeitsgerichtlich durchgesetzt. Auch die in Sachsen-Anhalt tätigen Beratungsstellen für migrantische Arbeitnehmer würden immer wieder mit der prekären Situation der Leiharbeiter und Werkvertragsarbeitnehmer konfrontiert. „Auch hier ist es kein Geheimnis, dass immer wieder Fälle vor den Arbeitsgerichten landen. Sie berichteten im Beitrag ja auch hierzu“, so Thomas Gawron.

„Richtig ist: Bereits als Anfang 2018 das Thema Einführung der Werkvertragsarbeit in Zerbst aufkam – Ende 2018 wurde bei der Anhalter Fleischwaren GmbH der Großteil der damaligen Leiharbeitnehmer im Rahmen eines Betriebsübergangs in das rechtliche Konstrukt der Werkverträge überführt – hat die NGG dem Betriebsrat ihre Unterstützung bezüglich des Umgangs mit Leiharbeit und Werkvertrag im eigenen Betrieb angeboten“, erklärt Gawron. Der Betriebsrat habe Unterstützung und Beratung jedoch abgelehnt.

„Bereits im Mai 2018 sind die Betriebsratsvorsitzende und ihre Stellvertreterin im Rahmen einer Konzernbetriebsratssitzung von Seiten der NGG auf die uns bekannten prekären Arbeits- und Unterbringungsbedingungen der Leiharbeit- und Werksvertragsarbeitnehmer aufmerksam gemacht worden“, so Gawron. Dem Betriebsrat sei seitdem bekannt, dass unter anderem auch die Gewerkschaft NGG sich vor Ort von den Unterbringungsbedingungen der Beschäftigten ein Bild machte.

„Das Angebot, den Kontakt zu den vor Ort tätigen und mit den Zuständen vertrauten Beratungsstellen zu vermitteln, wurde seitens des Betriebsrats abgelehnt, mit dem Hinweis, man werde für diese Beschäftigten nichts tun. Offensichtlich besteht kein Interesse an den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten“, macht der Gewerkschafter deutlich.

Zwar sei der Betriebsrat des Kundenbetriebs, also des Betriebs, der die Werkvertragsarbeit bestellt, offiziell erst einmal nicht zuständig. „Das ist aber nicht immer der Fall“, sagt Gawron und nennt ein Beispiel: „Da die Anhalter Fleischwaren für den Arbeitsschutz auf dem gesamten Betriebsgelände verantwortlich ist, kann auch der Betriebsrat hier ein ernstes Wort mitreden. Das betrifft auch die im Betrieb tätigen Werkvertragsarbeiter.“

Auch sei es schon von Gesetzes wegen die Aufgabe des Betriebsrats zu überwachen, dass die zugunsten aller Arbeitnehmer, also auch der Werkvertragsbeschäftigten, geltenden Gesetze, Verordnungen, Tarifverträge eingehalten werden. „Seit 2015 gibt es übrigens auch eine sogenannte Freiwillige Selbstverpflichtung der Fleischwirtschaft, die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, auch der Werkvertragsbeschäftigten, zu verbessern. Ein Betriebsrat kann und sollte hier also nicht wegschauen“, betont Gawron.

Inzwischen hat die Konzernleitung ein Sofortprogramm angekündigt. Wie ein Tönnies-Sprecher schriftlich mitteilte, werden in einem Pilotprojekt 1000 Werkvertragsarbeiter am Standort Rheda-Wiedenbrück zum 30. September direkt bei Tönnies eingestellt. „Darauf aufbauend werden alle Mitarbeiter der Schlachtbetriebe der Unternehmensgruppe aus den Bereichen Schlachtung und Zerlegung in den nächsten sechs Monaten direkt bei Tönnies eingestellt“, so der Sprecher.

Außerdem wolle Tönnies Mitarbeitern, die bis dato in einem Werkvertragsverhältnis stehen, verschiedene Wohnungsangebote bereitstellen. Ziel sei, zusätzlich zum bestehenden Wohnraum in den Regionen der Standorte verstärkt Wohnraum zu schaffen. Inwieweit von diesen Maßnahmen auch die 180 Arbeiter mit Werkverträgen am Standort Zerbst profitieren, bleibt vorerst offen. Diesbezügliche Fragen an den Konzernsprecher blieben unbeantwortet.