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Bigger Love Polit-Protest und softer Soul: John Legend im Spagat

Mit seinen politischen Ansichten hält John Legend selten hinter dem Berg. Zugleich ist er einer der erfolgreichsten Süßholzraspler im modernen Soul. Der Grammy-Seriensieger fährt zweigleisig - mit scharfer Trump-Kritik und soften Songs fürs Schlafzimmer.

Von Werner Herpell, dpa 23.06.2020, 05:00

Berlin (dpa) - Die Soulmusik kennt viele Verführungskünstler. Marvin Gaye, Isaac Hayes und Barry White, um nur drei große Schmusesänger zu nennen, hatten mit etlichen Liedern ein einziges Ziel: die Angebetete ins Schlafzimmer zu locken - oder den Hörer zu Gleichem anzustiften.

Der elffache Grammy-Gewinner John Legend gehört längst ebenfalls in diese Reihe der romantischen Soul-Troubadoure. Erst recht mit dem neuen Album "Bigger Love", das seine politischen Positionen bedauerlicherweise hinter arg viel Samt und Seide verbirgt.

Stattdessen haucht, seufzt und säuselt der 41 Jahre alte US-Superstar - oft in cremigstem Falsett - für seine Herzdame. Das Subjekt dieser Liebeslieder ist wohlbekannt: Seit 2013 führt Legend eine dank öffentlicher Turteleien in sozialen Netzwerken prominente Ehe mit Model Chrissy Teigen (34), die beiden haben inzwischen zwei gemeinsame Kinder.

In der "Tonight Show" von Jimmy Fallon kündigte es Legend, dessen Nummer-eins-Single "All Of Me" von 2013 nicht zufällig zu den beliebtesten Hochzeitsliedern gehört, im Frühjahr bereits an: "Bigger Love" werde "probably my sexiest album to date", also seine bisher erotischste Songsammlung. In der Pandemie-Tristesse dieses Jahres sei das doch nicht verkehrt: "Wenn Sie zu Hause festsitzen und ein paar Corona-Babys machen wollen... Oder wenn Sie viel Zeit mit Ihrem Partner verbringen und dazu einen Soundtrack brauchen."

Der Titelsong mit aufmunternden Klatsch-Rhythmen und hymnischem Refrain gehört dann wohl eher zum Liebesvorgeplänkel, etwa bei der Anmache mit schwungvoller Partymusik. Für das Video hat sich Legend Filmchen von fröhlich tanzenden Fans zuschicken lassen, auch Ehefrau Chrissy und die beiden Kids treten auf - alles ganz jugendfrei.

Neben einigen flotteren unter den insgesamt 16 neuen Legend-Liedern wird indes meist zu gebremsten Beats kräftig Süßholz geraspelt: Dass er ein "Slow Cooker" sei und es gern langsam angehen lasse, versichert der Sänger zu butterweichen Bläsern in einem recht schummrigen Sound-Séparée. Klar auch, dass Legend der Liebsten ergebenst zu Füßen liegt ("Focused"), die Dame wie verrückt lieben will ("Wild", mit grauenhaftem Macho-Gitarrensolo) und ganz gewiss kein mieser Herzensbrecher ist ("Conversations In The Dark").

Die Texte sind also - nun, vermutlich wirkungsvoll. Stimmlich bedient sich Legend, ein fabelhafter Sänger, bei den Ikonen des Soul. Neben Marvin Gaye, Stevie Wonder oder Curtis Mayfield ist Prince zu nennen, der bekanntlich ebenfalls so manches Lied für intime Stunden gemacht hat. Einiges erinnert aber auch an Schnulzen von Lionel Richie.

Dass Legend mit dem überlangen Album "Bigger Love" musikalisch so wenig wagt, ist schade. Denn er hatte bereits vor zehn Jahren, bei seiner tollen Kollaboration mit der Hip-Hop- und Funkband The Roots ("Wake Up!"), bewiesen, dass er viel mehr kann. Und genug Polit-Frust für eine gesellschaftskritische Soul-Platte trägt dieser kluge, progressive Afroamerikaner gewiss in sich.

So kritisierte Legend kürzlich mit klaren Worten das Krisenmanagement von US-Präsident Donald Trump in der Corona-Pandemie: "Er ist das genaue Gegenteil von dem, was wir gerade brauchen." Zusammen mit anderen US-Künstlern setzte er sich für Demonstranten ein, die wegen der Anti-Polizeigewalt-Proteste im Gefängnis gelandet waren - Legend/Teigen kündigten umgehend 100.000 US-Dollar als finanzielle Unterstützung an. Der Sänger verlinkte zudem auf Twitter Worte des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King, wonach nur mit sozialer Gerechtigkeit und Fortschritt Aufstände zu vermeiden seien.

Das Warten auf ein wirklich bahnbrechendes Album von John Legend geht also weiter. "Bigger Love" ist solide Konfektionsware, nicht mehr und nicht weniger; es ist bei weitem kein "What's Going On", mit dem Marvin Gaye vor fast 50 Jahren den Soul politisierte und revolutionierte. Ausreichend Talent, Cleverness und Charisma hat Legend allemal - aber auch genügend Risikobereitschaft und Lust zur Provokation?

© dpa-infocom, dpa:200616-99-439830/3

Website John Legend