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Volksstimme-Redakteur besucht Notquartier für Flüchtlinge aus dem Osten des Landes Überleben in Industrieruine von Kiew

26.09.2014, 01:14

Es stinkt zum Himmel - wie nach einer Mischung aus Trabant-Abgasen und Braunkohlekraftwerk. Nahe der Metrostation Vydubychi in Kiew ist es mit dem Charme der ukrainischen Hauptstadt vorbei. Hier heizen Flüchtlinge aus dem umkämpften Osten des Landes ihr Notquartier in den Ruinen einer stillgelegten Stahlfabrik mit allem, was sich verbrennen lässt. Denn der Herbst kündigt sich mit Macht an, es herrschen selbst in der schalen Mittagssonne nur wenig mehr als 10 Grad.

Im Flüchtlingscamp gibt es einen halbrund blechern überdachten Unterkunftsbau, eine "Stolowaja", wie im russischsprachigen Raum die kantinenähnlichen Verpflegungsstätten genannt werden. Zudem gibt es einen Toilettentrakt - und einen Kirchensaal. Denn das gesamte Unternehmen trägt der in der Ukraine ansässige protestantische Kirchensplitter namens Immanuel. Der muss die Sache auch weitestgehend bezahlen. Staatliche Unterstützung gibt es in der klammen Ukraine so gut wie nicht.

Das Elend in diesem Lager ist greifbar. Da ist sofort ein Rollstuhlfahrer unterwegs, wenn fremdsprachige Journalisten auftauchen. In Kiew gibt es Zehntausende von Flüchtlingen aus der umkämpften Südostukraine. Die Zahlenangaben schwanken - von 10 000 plus x ist aber auszugehen.

In der Stolowaja schält kurz vor der Mittagszeit Anton Kartoffeln. Er kommt aus Donezk und ist allein ins Camp gekommen. Wo ist der Rest seiner Familie? "In Russland." Aha, und warum ist ausgerechnet er im Heimatland geblieben? "Die Ukraine ist meine Heimat", bescheidet der 18-Jährige knapp. Für das Leben und Überleben im Camp hat er eine Vokabel: "Tjascholui" - schwierig.

Ratloser Klitschko

In der Tat: Die Menschen aus dem Raum um Donezk, bis 1996 Partnerstadt von Magdeburg, und Lugansk kommen mit nichts und bekommen auch so gut wie nichts. Die Unterkunft und das selbsthergestellte Essen sind frei, ansonsten muss jeder selbst schauen, wie er weiterkommt. Die Ukraine hat das Geld nicht, den Heimatvertriebenen in der eigenen Heimat zu helfen.

Was wird im Winter? Der Chef im Camp, Pastor Igor Tsatska, der allerdings mit Basecap, Kapuzenpullover und Jeans nichts von einem christlichen Würdenträger an sich hat, weiß es nicht.

Ähnlich ratlos ist bei dieser Frage im nach der Maidan-Revolution frisch renovierten Rathaus auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko.

Heizungswärme gedrosselt

Der muss als Verwaltungschef nun dafür sorgen, dass die Flüchtlinge und auch die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt in der kalten Jahreszeit eine halbwegs warme Behausung haben. Das ist weit schwieriger als ein wortreicher Wahlkampf um das Bürgermeisteramt. Klitschko ist bekennender Reformer und hat zunächst das in den Revolutionswirren besetzte und schwer beschädigte Rathaus reparieren lassen. Außerdem ist er damit beschäftigt, Vertraute des früheren Janukowitsch-Regimes aus den Ämtern zu feuern. "Lustration" heißt das Stichwort, dessen Handhabung schwer an die Nachwende-DDR erinnert.

Die Winterfrage ist auch für das Kiewer Stadtoberhaupt evident: Klitschko hat angeordnet, die Heizungen in der Stadt um zwei Grad herunterzudrehen, um das von den Russen knapp gehaltene Erdgas zu sparen. Ansonsten sagt er mit angestrengter Ironie: "Ich hoffe auf einen milden Winter." Diese Erwartung teilt er mit den Flüchtlingen draußen am Dnepr. In deren Stolowaja gibt es auch ein schwarzes Brett mit den notwendigen Informationen. Dort findet sich das Stellenangebot eines neueröffneten Restaurants. Man braucht demnach alles - vom Koch bis zur Barfrau. Für die Flüchtlinge eine Möglichkeit, sich das Überleben zu sichern. Anton aus Donezk hat davon schon Gebrauch gemacht. Er arbeitet in einem bekannten Lokal namens "Mafia".