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Schimpansenforscherin Jane Goodall bleibt sich bis ins hohe Alter treu: "Wer sich selbst erkennen will, muss die Natur wiederentdecken"

13.12.2010, 04:27

Von Michael Loesl

Die Widmung, die Jane Goodall am Ende des Gesprächs in ihre Autobiografie, "Grund zur Hoffnung" schreibt, fasst ihr Leben in drei knappen Worten zusammen: "Folge deinem Herzen." Als junges Mädchen träumte sie manchmal davon, Märtyrerin zu werden, die trotz Qualen zu ihrem Glauben stand. Diese Tagträume, sagt sie heute, seien ein Versuch gewesen, sich mit den Aggressionen und Leiden auseinanderzusetzen, die sie als Kind im England des Zweiten Weltkrieges erlebte. Sie seien aber auch lehrreich gewesen für ihren Mut, ihren Idealismus und ihr Vertrauen ins Leben.

Dem Leben zugewandt, hat sie längst unbeabsichtigt eine Heldenrolle eingenommen. Heute ist sie 76 Jahre alt, Trägerin eines Verdienstordens der englischen Königin, Ehrendoktorin der Universitäten von Toronto und Liverpool, Kyoto-Preisträgerin und, viel wichtiger, die Grande Dame der Verhaltensforschung.

Kürzlich wurde ihr der "Bambi" für den Film "Janes’ Journey" überreicht, der die Lebensgeschichte der Frau mit dem großen Sendungsbewusstsein nachzeichnet. Gute zwei Kilometer Waldweg muss man zurücklegen, um das Hotel zu erreichen, in dem sie logiert. Goodall sucht die Abgeschiedenheit, weil sie trotz ihres stolzen Alters rund 300 Tage im Jahr unterwegs ist, Vorträge hält, an Diskussionen teilnimmt und die Fortschritte der von ihr initiierten Kinder- und Jugendorganisation Roots & Shoots (Wurzeln und Sprösslinge) verfolgt – alles im Dienste ihrer Mission. Auf der befindet sie sich rastlos seit 1957.

Schon damals, mit 23, empfand sie Verzweiflung über das Plündern des Planeten von Menschenhand. Im Gombe Stream National Park in Tansania, wo sie, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, 40 Jahre lang blieb, zog sie in ihren Verhaltensbeobachtungen von Gruppen von Schimpansen Rückschlüsse auf das Verhalten von Vormenschen.

Vorfahren als Ausrede

Die überraschende Quintessenz ihrer Forschungen lautet heute, dass wir uns nicht länger auf das Verhalten unserer Vorfahren, der Primaten, berufen dürfen, um Kriege, Aggressionen, Egos und unsere destruktiven Kräfte legitimieren zu können.

"Wir Menschen haben außergewöhnliche Intellekte entwickelt. Wir sind in der Lage, Fragen zu stellen, Pläne zu schmieden und Dinge zu durchdenken. Warum bekriegen wir uns immer noch gegenseitig, wo wir doch alle, jeder Einzelne, jeden Tag aufs Neue die Wahl haben?" Weil unser kollektiver Geist letztlich unserer technologischen Errungenschaften hinterherhinkt? Als ob die Antwort klar wäre, lächelt sie lediglich sanft.

Wenn sie sich einmal in die Augen ihres Gegenübers festgeschaut hat, lässt sie nicht mehr los und entfacht damit eine Wechselwirkung aus Faszination und Irritation. "Schimpansen sind die einzigen Lebewesen, die keine Aggressionen verspüren, wenn man ihnen lange in die Augen schaut. Für sie sind die Augen wie Fenster zur Persönlichkeit, die sie betrachten. Ich habe durch sie gelernt, dass ich mittels intensivem Blickkontakt Einblicke in die Charaktere und Seelen anderer Menschen bekomme."

Trotz des Faszinosums Mensch ist ihr die moderne Zivilisation eher suspekt. "Ich möchte nicht in diesen Hotels sein, die fernab von allem Natürlichen versiegelt sind. So leben die meisten Leute ihr Leben – hermetisch abgeriegelt von anderen Menschen und von der Natur. Das führt zu vielen Problemen. Wer sich selbst erkennen will, muss die Natur wiederentdecken." Die war nicht immer gut zu ihr. Sie erlebte Überfälle auf ihr Lager in Gombe, Malaria-Infektionen, den Krebstod ihres Mannes, die AIDS-Pandemie in Afrika, die sie nur zum Teil der Natur zuschreibt, das Töten von Schimpansenbabys durch Schimpansenmänner.

Trotzdem hat sie unbändiges Vertrauen in die Natur und die Kraft des menschlichen Geistes. "Als ich über Monate, manchmal Jahre alleine Schimpansen beobachtete, spürte ich eine Kraft zwischen Himmel und Erde, der sich mein Herz verbunden fühlte. Diese Kraft treibt mich noch immer an." Ein Zimmer im Haus ihrer Schwester in Bournemouth ist neben der Gewissheit, vom Leben reich mit Erkenntnissen beschenkt worden zu sein, alles, was sie besitzt.

Schwäche für Musik

Zur Märtyrerin eignet sie sich damit vielleicht nicht. Eine Heldin kann sie nicht sein. Dafür habe sie gerade wegen aller materiellen Entbehrungen viel zu privilegiert gelebt, sagt sie. Eine Schwäche gesteht sie am Ende doch noch ein: Musik. Im Soundtrack, den der Komponist Wolfgang Netzer zum Film "Jane‘s Journey" schuf, erkennt sie sich wieder. "Die Musik zum Film besitzt etwas Friedliches. Und manchmal etwas Stilles. Mit beiden Attributen hat er wesentliche Charakterzüge von mir getroffen. Musik ist wichtig für mich, weil sie meine Seele füttert. Ich kann mich durch sie auf eine Reise begeben, was widersinnig wirken mag, weil ich ohnehin ständig unterwegs bin. Musik geleitet mich auf Reisen zu mir selbst zur inneren Ruhe. Das ist vielleicht der einzige Zustand, den ich in meinem Leben vermisse."(dapd)