1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Europas größte Minderheit ist die ärmste

EIL

Die EU-Kommission will die Lage der Roma verbessern – doch die Mitgliedsstaaten müssen mitziehen Europas größte Minderheit ist die ärmste

09.04.2010, 05:19

Z: Wernigerode ZS: WR PZ: Wernigerode PZS: WR Prio: höchste Priorität IssueDate: 08.04.2010 22:00:00


Von Steffen Honig

Wenn man Bulgaren auf die Roma in ihrem Lande anspricht, folgt einem zischenden "Zigani?" meist sofort ein Wortschwall der Entrüstung. Asozial und kriminell seien die Zigeuner, klauten sich den Strom, den Normalbürger teuer bezahlen müssten …

Solche Vorurteile gibt es nicht nur in Bulgarien, sondern in ganz Osteuropa. Und Millionen Roma und Sinti leben auch in Westeuropa, wo das Umfeld zwar intakter ist, die größte Minderheit aber ebenfalls oft angefeindet wird.

Die Europäische Union quält sich mit dem Roma-Problem ähnlich wie die nationalen Regierungen. Noch bis heute läuft im spanischen Cordoba der zweite europäische Roma-Gipfel, der sich mit Strategien zur besseren Integration der Roma in die Gesellschaft befasst.

Neben dem tatsächlichen Bemühen, gegen die misslichen sozialökonomischen Bedingungen für diese Minderheit zu Felde zu ziehen, verbirgt sich dahinter auch ein gerüttelt Maß an Symbolpolitik. Schließlich ist der 8. April der Internationale Tag der Roma, der an den ersten internationalen Roma-Kongress in London 1971 erinnert. Da macht es sich gut, wenn Europa öffentlich Flagge für die Roma-Rechte zeigt.

Deprimierende Analyse

Denn im praktischen Herangehen gibt es erhebliche Differenzen zwischen hehren EU-Absichten und nationalen Vorstellungen. Vorgestern stellte EU-Sozialkommissar László Andor aus Ungarn einen deprimierenden Bericht der Brüsseler Kommssion zur Lage der Roma vor. Tenor: Roma stehen in jeder Beziehung am Rande der Gesellschaft. Das zu ändern, forderte EU-Kommissar Andor die Mitgliedsstaaten auf, die Gelder aus den europäischen Strukturfonds für die Roma-Eingliederung zu nutzen.

"Die Roma brauchen keinen eigenen Arbeitsmarkt, sie brauchen keine Schulen, die die Segration von Roma-Kindern verlängern, und sie wollen keine renovierten Roma-Ghettos", ging Andor mit den Mitgliedsstaaten ins Gericht. Die Kommission moniert bürokratische Hindernisse wie Planungs- und Verwaltungsprobleme, die verhinderten, dass Strukturfondsmittel den Roma zugute kämen.

Die Folgen der Ausgrenzung sind ein niedriger Bildungsstand, meist unqualifizierte Tätigkeiten mit geringem Einkommen und ein schlechter Gesundheitszustand – Roma haben dadurch eine geringere Lebenserwartung als andere Bevölkerungsgruppen. Hier will Brüssel mit gezielter Förderung gegensteuern und Beispielprojekte, die es durchaus gibt, verallgemeinern. Alles richtig, angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit aber maximal ein Tropfen auf den heißen Stein.

Etwa im erwähnten Bulgarien, das durch die Weltwirtschaftskrise in die tiefste Depression seit 1997 geraten ist, als der Staat – wie heute Nachbar Griechenland – vor dem Bankrott stand. Allein im Februar dieses Jahres erreichte das Staatsdefizit den Rekordwert von fast 1,4 Milliarden Lewa (rund 715 Millionen Euro). Mehr als die Hälfte der Bulgaren befürchtet, ärmer zu werden.

Zudem sind Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft bis in die höchsten Ebenen allgegenwärtig. Trotz des stets drohenden Zeigefingers aus Brüssel und der Absicht der konservativen Regierung, die Korruption auszumerzen.

"Zigani" im Abseits

Erst in der Vorwoche wurde Ex-Verteidigungsminister Nikolaj Zonew wegen versuchter Bestechung festgenommen. Auch ein Richter und ein früherer ranghoher Beamter des Finanzministeriums wurden als seine Vermittler festgesetzt. Zonew wurde vorgeworfen, er habe einen Ermittler mit 60000 Euro bestechen wollen, damit dieser die Beweissammlung gegen ihn einstellt. Es geht dabei um einen umstrittenen Bauauftrag für 60 Millionen Euro, den der Minister vergeben hatte.

Da ist wenig Raum, sich auch noch um die Sorgen der "Zigani" zu kümmern. Diese gehören in Bulgarien – wie in anderen osteuropäischen Staaten – zu den großen Verlierern des gesellschaftlichen Umbruchs zu Anfang der 1990er Jahre. Die in Todor Schiwkows Sozialismus stalinistischen Charakters praktizierte Integration mit der Knute war vorbei, die Roma weitgehend sich selbst überlassen.

Der Weg führte vom Rand der Gesellschaft ins absolute Abseits. Wer unbedingt Elend sehen will, kann dies am Rande beinahe jeder bulgarischen Kommune im jeweiligen Roma-Quartier, schon von weitem am Zerfall erkennbar. Die Zigeuner-Klischees passen, belebt auch von den Roma selbst. In Sofia hatten aufgebrachte Bulgaren bereits versucht, ein Roma-Viertel mit einer Mauer abzugrenzen, was noch verhindert wurde.

Der goldene Schlüssel zur Integration der einst aus Indien zugewanderten Roma wird in Europa seit Jahrhunderten gesucht. Bisher vergeblich.