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Viola Stephani betreut in Gardelegen Patienten der Praxis von Dr. Gabriele Genseke als mobile Praxishelferin Von Gesine Biermann Projekt MOPRA: Wenn Schwester Agnes klingelt

16.06.2012, 03:18

Es gibt sie wieder, die Gemeindeschwester. Viola Stephani betreut in Gardelegen Patienten als mobile Praxishelferin und fährt zu ihnen nach Hause.

Gardelegen l Es ist Dienstagmorgen gegen halb neun. Das Wartezimmer ist brechend voll. Alle Stühle sind besetzt. Das zurückliegende war ein langes Wochenende. Da ist natürlich immer ein bisschen mehr los als sonst in der Gardeleger Hausarztpraxis von Dr. Gabriele Genseke.

Und so haben nicht nur die Ärztin, sondern auch die Schwestern an diesem Morgen schon jede Menge zu tun. Krankenkassenkarten müssen eingelesen, Rezepte geschrieben werden. Im Labor füllen sich die Röhrchen mit Blutproben. Und manch einer will bei den Damen am Empfang eben auch schon mal ein paar Worte loswerden. Wer hierher kommt, kommt mit Beschwerden. Bei allem Stress muss also auch mal ein Lächeln, mal ein tröstendes Wort drin sein; nicht nur im Behandlungszimmer, oft auch schon am Empfang.

Dafür, dass das möglich ist, bei dem Andrang an diesem und anderen Tagen, sorgt in der Praxis indes noch jemand anderes. Viola Stephani arbeitet allerdings ein bisschen im Hintergrund. Viele Patienten von Gabriele Genseke bekommen sie gar nicht erst zu Gesicht.

"Ich bin der verlängerte Arm und das dritte Auge von Frau Doktor"

Unsichtbar ist sie aber natürlich nicht. Nur viel unterwegs. Denn Stephani ist die "Schwester Agnes" in der Hausarztpraxis. Wie die berühmte Filmkrankenschwester aus dem gleichnamigen DEFA-Streifen - in dem 1975 Agnes Kraus die Hauptrolle spielte - ist sie in der Hauptsache für Hausbesuche für jene, meist chronisch kranke Patienten zuständig, für die der Weg in die Praxis zu beschwerlich, manchmal sogar unmöglich wäre. Als "verlängerter Arm und drittes Auge von Frau Doktor", wie sie lächelnd erklärt, als sie an diesem Morgen kurz vor neun Uhr in der Praxis noch einmal den Inhalt ihrer Tasche überprüft und sich eben noch einmal schnell mit der Ärztin und den Kolleginnen abspricht, bevor es wieder losgeht.

Denn als sie wenige Minuten später zum nächsten Termin aufbricht - natürlich nicht mit der berühmten weißen Schwalbe, sondern in ihrem kleinen weißen Flitzer auf vier Rädern -, ist es für sie schon die zweite Runde. Drei Patienten hat sie an diesem Morgen schon besucht, Blutdruck gemessen, Blutproben genommen, Medikamente überprüft. Während sie zügig die nächste Adresse in einem Gardeleger Ortsteil ansteuert, hat sie zwischendurch aber mal ein bisschen Zeit zum Reden.

Eigentlich, so erzählt sie, während sie das Ortsschild von Gardelegen passiert, sei sie nämlich ausgebildete Hebamme. Viele Jahre habe sie auch ausgesprochen gern in diesem Beruf gearbeitet. Die Babysprechstunde einmal in der Woche gehöre deshalb auch mit zu ihren Aufgaben. Aber dennoch seien es neben den jüngsten Patienten in der Praxis vorwiegend die wesentlich älteren, die sie betreut. "So schließt sich immer wieder der Kreis." Denn den größten Teil ihrer Arbeitszeit widmet Viola Stephani jenen, die nicht mehr so mobil sind.

Für sie ist sie deshalb die mobile Praxisassistentin (MOPRA). Das nämlich ist der offizielle Name des Pilotprojektes, das 2007 zunächst nur in den neuen Bundesländern eingeführt worden ist, um Hausärzte gerade in ländlich geprägten, von ärztlicher Unterversorgung bedrohten Regionen durch besonders geschulte Mitarbeiterinnen zu unterstützen. "Und zwar arztentlastend, aber nicht arztersetzend", erklärt Stephani. Dr. Genseke habe damals die Chance genutzt und ihre und einer weiteren Sprechstundenschwester diese Weiterbildung finanziert. "Zuerst haben wir gedacht: ¿Ein Wochenende und dann haben wir das geschafft.\'" Immerhin waren beide schon medizinisch ausgebildet. Das Ganze habe sich allerdings schließlich doch als zweijährige Ausbildung herausgestellt.

Dennoch: Die Idee habe ihr auf Anhieb gefallen und "das Angebot habe ich sofort angenommen", sagt Stephani. So sei sie nun also, gemeinsam mit der Kollegin, die derzeit im Erziehungsurlaub ist - seit 2009 offiziell als "Schwester Agnes" unterwegs. Und "ja", bestätigt sie gut gelaunt, mit dieser Bezeichnung könne sie auch selbst gut umgehen, sie habe sich durchgesetzt, sei einfach ein Begriff. "Damit kann jeder etwas anfangen." Jedenfalls hier im Osten. Auch wenn sie ohne die schicke weiße Schwesternhaube unterwegs ist, mit der ihre berühmte Namenskollegin einst durch das Filmdörfchen Krummbach in der Oberlausitz düste.

Und auch die Wege, die Viola Stephani täglich zurücklegt, sind wohl um einiges weiter, als jene von Agnes Kraus. Allein 20 Kilometer von Gardelegen entfernt wohnt die Patientin, die Viola Stephani an diesem Tag als nächstes ansteuert. "Sie hört ein bisschen schwer", erklärt sie, als sich auf ihr Klingeln zunächst niemand meldet. Aber Schwester Agnes wäre nicht Schwester Agnes, wenn sie sich nicht zu helfen wüsste. Sie klingelt an einer anderen Stelle und eine nette Nachbarin, die einen Schlüssel zur Wohnung hat, sagt mal eben Bescheid.

Und die ältere Dame hat schließlich auch schon auf ihren Besuch gewartet. Es gehe ihr zwar nicht schlecht, versichert sie, nur "der Blutdruck", den sie mit einem kleinen Handgelenkmessgerät geprüft habe, "war gestern Nacht ziemlich hoch". Und tatsächlich, die Kontrollmessung an diesem Morgen bestätigt das. Viola Stephani überzeugt sich noch einmal davon, welche und wie viele Tabletten die Patientin einnimmt und klärt dann telefonisch mit Dr. Genseke ab, wie der Bluthochdruck behandelt werden soll. Unmittelbar danach kann sie mit der Seniorin schließlich schon die veränderte Medikation klären. Die Frau ist sichtlich beruhigt, plaudert erleichtert sogar noch ein bisschen mit "ihrer" Schwester. Erzählt von Schwierigkeiten, die sie mit Handwerkern befürchtet und von ihren Enkelkindern.

"Die Gespräche helfen den Patienten zuweilen mehr als eine Pille"

Und diese wenigen Minuten, um ihr zuzuhören, nimmt sich Viola Stephani auch. Sie weiß, das gehört dazu, wenn man mit älteren Menschen zu tun hat. So mancher Patient freue sich auch besonders darauf. Zudem finde sie in solchen Gesprächen zuweilen auch schon mal einen Grund dafür, "dass der Blutdruck mal ein bisschen höher ist als sonst, weil sich derjenige zum Beispiel gerade auf einen Besuch der Kinder oder eine runden Geburtstag freut".

Und dass sie ganz besondere Ereignisse im persönlichen Leben der Patienten auch schon mal in ihren Aufzeichnungen festhält, die sie von allen Hausbesuchen anfertigt, ist schließlich nicht zuletzt auch für ihre Chefin eine gute Sache.

"Wenn Frau Doktor dann bei einem ihrer Besuche einmal im Quartal nachfragt, wie denn die Hochzeit der Enkelkinder war, dann freuen sich die Patienten darüber ganz besonders", erzählt sie. Anteil zu nehmen sei eben auch eine Art Medizin, eine, die nicht auf Rezept zu bekommen ist. "Gespräche helfen zuweilen sogar mehr als eine Pille", sagt Viola Stephani.

Eine große Hilfe ist es schließlich aber auch, dass der Besuch der mobilen Praxisassistentin vor allem älteren Menschen lange Wege erspart. "Ich bin so froh darüber, dass ich nicht immer nach Gardelegen fahren muss, erzählt eine ältere Dame an diesem Morgen erleichtert. Bei ihr muss in regelmäßigen Abständen Blut abgenommen werden. Nur ein kleiner Pieks, in Sekunden erledigt. Gut, dass sie dafür nicht jedes Mal aus dem Haus müsse, "prima", dass es "Schwester Stephani gibt", sagt die Patientin dankbar.

Ein anderer Patient bestätigt das an diesem Morgen schließlich ebenfalls: "Ich muss mehrmals in der Woche zur Dialyse", erzählt der Mann. "Wenn ich dann noch laufend in die Hausarztpraxis fahren müsste, wäre ich wohl nie zuhause."

Und so sind es, neben dem Gefühl helfen zu können, auch ganz besonders diese Erlebnisse, die offensichtliche Dankbarkeit der Menschen, die Viola Stephani an ihrer Arbeit schön findet. Auch wenn "Agnes" zuweilen auch schon mal über ihren Schatten springen muss, wie der nächste Patientenbesuch an diesem Tag beweist.

Der nämlich führt sie zu einem Jävenitzer Ehepaar, das von ihr betreut wird. An diesem Tag hat Stephani allerdings nur mit ihm einen Termin. Blut muss abgenommen werden, verschiedene Untersuchungen standen in den vergangenen Tagen bei anderen Fachärzten an, deren Untersuchungsergebnisse sie sich sagen lässt ,um sie in ihre Akte einzutragen. Zudem braucht der Patient eine Überweisung zu einem Spezialisten, die später in der Praxis ausgestellt werden wird, damit sie sie beim nächsten Besuch mitbringen kann.

Und auch hier nimmt sich die Schwester dann noch ein bisschen Zeit zum Plaudern und lacht dann über sich selbst, als der Patient zwinkernd nachfragt, ob er denn diesmal kein Pflaster nach dem Pieks bekommt: "Also, ich bin zwar zum Sparen angehalten, aber das spendiere ich Ihnen natürlich noch", versichert sie fröhlich. Vor allem, da er ja so tapfer gewesen sei.

Dann aber muss sie ganz plötzlich selbst ziemlich mutig sein. Denn ganz unerwartet stellt ihr das Ehepaar seinen vierbeinigen Liebling vor: Ziegenbock Toni. Und da geht Viola Stephani dann doch lieber mal einen Schritt zurück und nimmt hinter einem Stuhl Zuflucht. Denn Tonis Hörner findet sie schon ziemlich beeindruckend, auch wenn sie dem Jävenitzer das Experiment lachend durchgehen lässt. Denn so sei das eben auf dem Land, sagt sie später vor der Haustür. Da müsse man auf so manche Überraschung gefasst sein.

"Wenn alles auf Schlaganfall hinweist, kommt es auf jede Minute an"

Gut, wenn die dann so lustig sind, wie die eben erlebte Episode. Denn nicht immer verlaufen ihre Patientenbesuche natürlich so entspannt. Es gab schon Momente, da habe sie auch schon mal umgehend den Rettungsdienst rufen müssen, wenn sich ein Patient in besorgniserregendem Zustand befand, eine lebensbedrohliche oder sehr ernste Erkrankung vorlag. Dann sei der erste Anruf natürlich die 112 und erst danach folge der, mit dem sie ihre Chefin informiere. "Wenn zum Beispiel alles auf einen Schlaganfall hinweist, kommt es schließlich auf jede Minute an."

An diesem Dienstagmorgen indes läuft alles ganz nach Plan. Bis jetzt hat sie auch alle ihre Patienten angetroffen. Und Viola Stephani liegt auch noch gut im Zeitlimit. Sie muss nämlich die Uhr auch ein bisschen im Auge behalten. "Um halb zwölf kommt der Kurier, der die Blutproben ins Labor bringt", sagt sie. Und davon hat sie schließlich auch einige in ihrer Tasche.

Aber noch muss sie sich nicht beeilen. Und so kann "Schwester Agnes" auch bei ihrem nächsten Patientenehepaar ganz entspannt im Wohnzimmer Platz nehmen. Beide sind schon über 80, können sich aber noch gut selbst versorgen. Allein der Fuß ihres Mannes mache ihr Kummer, erzählt ihr dann aber die Ehefrau. Denn der ist stark geschwollen. Und so ganz könne sie nicht einsehen, dass sich das gar nicht bessern will. Allerdings habe ihr Mann doch schon zahlreiche Spezialisten konsultiert, erinnert Stephani die Frau. Die aber hätten irgendwie "gar nichts gemacht", beschwert sich die Patientin.

Und da muss "Schwester Agnes" - wie bei manch anderem Besuch - dann auch schon mal klare Worte finden: "Niemand wird jünger", erklärt sie der Frau geduldig. Ein bisschen weniger Gartenarbeit würde dem Fuß ihres Mannes deshalb wohl auch nicht schaden. Sie kennt ihre Patienten schließlich, weiß, welche Hobbys sie haben. Und zuweilen geht das, was sich mancher noch zutraut, eben offensichtlich nicht ganz konform mit den Ratschlägen der Ärzte.

"Wir arbeiten mit den Pflegediensten eng zusammen"

Aber natürlich hat sie, wie immer, auch Verständnis für die Sorgen der Frau. Und als die Patientin eine Salbe hervorholt, die das Paar von einer Auslandsreise mitgebracht hat, und die "richtig gut hilft", versichert sie freundlich, sich bei ihrer Chefin nach einem Produkt zu erkundigen, das die selben Inhaltsstoffe hat. "Sonst muss uns Frau Doktor eine neue Auslandsreise verschreiben", sagt die Patientin, "damit wir uns die Salbe wieder selbst besorgen können." Und das, so gibt Stephani lachend zu, wäre doch dann mal eine wirklich gute Therapie, die ihr sogar selber gefallen würde. Mit der schlagfertigen Entgegnung bringt sie dann schließlich sogar die besorgte Seniorin zum Lachen. Die Situation entspannt sich. Guten Mutes verabschieden sich auch diese beiden von ihr.

Unversehens ist es nun doch Mittag geworden. Noch sind nicht alle Termine abgearbeitet, doch erst einmal muss sie jetzt in die Praxis zurück, um die zahlreichen Blutproben abzugeben. Die Kollegen warten auch schon auf sie.

Gerade sei nämlich ein Anruf von einer Patientin eingegangen, die heute unbedingt noch um einen Besuch bittet, erfährt Viola Stephani. Zudem wartet dann ja auch noch der Kollege Computer auf sie. Die Patientenakten, vor Ort handgeschrieben, müssen schließlich auch digital vervollständigt werden. Eine unbeliebte, aber wichtige Arbeit.

Wichtig ist dann aber natürlich auch die kurze Besprechung mit der Chefin, die über alles, was ihre mobile Praxisassistentin an diesem Tag getan hat, aktuell informiert werden muss. Immerhin trägt sie ja die Verantwortung. Sämtliche Therapien oder Medikamente müssen natürlich stets von Dr. Gensecke verordnet werden.

Und auch noch etwas anderes ist Viola Stephani wichtig, nämlich, dass "unsere Arbeit nicht als Konkurrenz zur mobilen Krankenpflege gesehen wird". Denn das sei sie keinesfalls. "Im Gegenteil, wir arbeiten mit den Pflegediensten eng zusammen, wir sprechen uns ab, das funktioniert auch wirklich gut."

Genau so gut übrigens wie ihre Aufgabe, der Ärztin und den Kolleginnen einen Teil ihrer Arbeit abzunehmen. Das jedenfalls wird an diesem Tag offensichtlich. Denn nur noch wenige Stühle im Wartezimmer sind um diese Mittagsstunde besetzt. Wäre sie nicht hinausgefahren, die "Schwester Agnes", wäre das wohl noch längst nicht der Fall.

Und so bringt es einer ihrer Patienten an diesem Tag auf den Punkt. Wie einst die Fernsehpatienten von Agnes Kraus, sagt er an diesem Morgen nämlich einen Satz, der ganz sicher auf Viola Stephani zutrifft: "Gut, dass es sie gibt!"