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Morgen wird der Weltfriedenstag im Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkrieges begangen / Otto Gassel erzählt "Alles, was mit Krieg zu tun hat, ist schlimm"

Von Simone Pötschke 31.08.2013, 03:09

Morgen wird im Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 74 Jahren der Weltfriedenstag begangen. Über 18 Millionen Wehrpflichtige zogen von 1939 bis zum Kriegsende im Mai 1945 den Soldatenrock an. Darunter auch Otto Gassel (93) aus Genthin, der den Krieg schwer verwundet überlebte und noch heute an den Folgen laboriert.

Genthin l Es ist einsam geworden um Otto Gassel, der viele Jahre im Kontakt mit ehemaligen Kameraden stand, die im Reichsbund und später im Sozialverband organisiert waren. Er kannte sie und ihre Schicksale gut, weil er dieser Genthiner Gruppe jahrelang vorstand. "Ich bin wohl einer der ganz wenigen, die den Krieg überlebt und ein hohes Alter erreicht haben", sagt der alte Mann, der durch eine Kriegsverletzung sein Leben lang gezeichnet ist.

Von den 20 jungen Männern des Jahrganges 1920 seines Heimatortes Bittkau/Elbe sind 13 im Krieg gefallen, weitere sechs Überlebende sind mittlerweile verstorben. "Nur ich bin noch übrig", so Gassel mit schwacher Stimme. In seinen Worten schwingt auch die Trauer über den Tod seines Genthiner Freundes Horst Turian mit, der kürzlich 88-jährig für immer die Augen geschlossen hat.

"Als der Krieg ausbrach und ich nicht gleich eingezogen wurde, hatte ich Angst, etwas zu verpassen."

Dem morgigen Gedenken an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begegnet Gassel indes mit zwiespältigem Gefühl.

"Ich glaube", resümiert der 93-Jährige nach kurzem Überlegen, "dass der Zweite Weltkrieg immer weniger Menschen interessiert." Der Genthiner erklärt dies mit seiner DDR-Biografie. "Wir haben nie über Kriegsverletzungen oder Kriegsereignisse geredet, das passte nicht in einen deutschen Staat, der der bessere Friedenswächter sein wollte." Denkmale seien nur den sowjetischen Soldaten gesetzt worden, unsere Opfer wurden einfach totgeschwiegen. Für die Bittkauer Opfer des Ersten und Zweiten Weltkrieges wurden Denkmäler aufgestellt, aber in Genthin nicht, bedauert Gassel.

Auch auf den Wahrheitsgehalt von Darstellungen und Filmen, die sich mit dem Weltkrieg beschäftigen, geht Gassel auf Distanz. "Mitunter entsprechen sie einfach nicht der Wahrheit, so dass ich mir sehr selten einen solchen Film ansehe."

Immerhin ein Menschenleben von 74 Jahren trennt heute Otto Gassel vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Wenige Tage zuvor, am 19. Juli 1939, an seinem 19. Geburtstag, war der junge Bittkauer gemustert worden. "Ich war bei der Machtergreifung 13 Jahre alt. Als Kinder sind wir systematisch auf das Soldatsein vorbereitet worden und fanden das auch noch abenteuerlich. Als der Krieg dann ausbrach und ich nicht gleich eingezogen wurde, hatte ich sogar Angst, ich würde nach den Feldzügen gegen Frankreich und Polen etwas verpassen", gibt Otto Gassel die Stimmung jener Tage wieder.

Anders als von vielen deutschen Städten bekannt, das weiß Gassel aber auch zu berichten, gab es in seiner Familie und seinem Heimatdorf keine große Begeisterung für den Krieg. Sein Vater war vier Jahre im Ersten Weltkrieg und kannte die Schrecken eines grausamen Stellungskrieges, bei dem viele Männer dem Wahnsinn verfielen. Der Mann der Nachbarin fand im Ersten Weltkrieg in Holland den Tod, später sollte sie in dem folgenden Krieg auch noch ihren einzigen Sohn verlieren. "Nein", sagt Otto Gassel, "in unserer Familie hielt sich der Jubel über den Ausbruch des Krieges in Grenzen".

Der junge Mann, der das Maurerhandwerk erlernt hatte, wurde zunächst dienstverpflichtet nach Jevernitz bei Gardelegen.

"Einen Kopfschuss eines Kameraden zu beobachten, ist so grausam, das vergisst man sein Leben lang nicht."

Zum 1. Oktober 1940 kam dann seine Einberufung. Zu Weihnachten ging es an die Westfront nach Frankreich, dann führte Gassels Weg im Mai 1941 nach Polen, als Soldat eines Pionier-Zuges erlebte er am 22. Juni den Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion. Dann der Tag, an dem sich alles verändern sollte: Am 9. Oktober zog sich der 21-Jährige bei Smolensk eine schwere Verletzung am Bein zu, die gleich vor Ort am Hauptverbandsplatz eine Amputation zur Folge hatte. Das sei sein "Heimatschuss" gewesen, blickt der 93-Jährige zurück. Er wisse bis heute nicht, was sein Bein zerfetzt habe. Waren es Granatsplitter oder Schüsse? Unmittelbar vor dem Beschuss robbte er sich noch zu einem Kameraden, der eine Kopfverletzung erlitten hatte. "So etwas ist so grausam, das vergisst man sein Leben lang nicht", dreht Gassel sein Gesicht bei seiner Schilderung ab, um seine Tränen zu verbergen.

Durch den Verlust seines Beines im Jahr 1941 sei ihm jedoch die Teilnahme am weiteren gnadenlosen Ostfeldzug, bei dem der Winter immer näher rückte und an den Kämpfen um Stalingrad erspart geblieben, erzählt der Genthiner. Zum Glück musste er nie Häuserkämpfe, Hunger und Eis erleiden.

Schwer verwundet wurde Gassel 1943 aus dem aktiven Dienst entlassen und fand, vermittelt durch die Nazis, eine Arbeit beim Landratsamt und eine Wohnung für die Familie. "Als die Russen kamen, wurden wir natürlich rausgeschmissen", erzählt Gassel, der in den folgenden DDR-Zeiten weder Entschädigung für seine Kriegsverletzung noch Kindergeld für seine drei Kinder erhielt.

Der morgige Weltfriedenstag ist Otto Gassel Anlass für einen Appell an die Nachgeborenen. "Alles, was mit Krieg zu tun hat, ist schlimm", sagt der alte Herr. Eigentlich ginge es uns mit einer langen Zeit des Friedens, die wir erleben können, immer noch gut, versucht Gassel klarzumachen. Er könne jedoch nicht verstehen, wie heute junge Leute auf neonazistische Parolen reinfallen können. "Die haben überhaupt nichts begriffen", empört sich der 93-Jährige, der sich auch im hohen Alter sein politisches Interesse bewahrt hat.

So lässt der aktuelle Syrienkonflikt und der mögliche Einsatz von Chemiewaffen unerwartet eine Erinnerung Gassels an seine Kindheit wach werden, die ihn betroffen macht. In Bittkau hatte er noch als Kind einen Mann kennengelernt, der im Ersten Weltkrieg Opfer von chemischen Waffen wurde. "Der Kriegsinvalide hatte einen Knacks weg. Er sehe den Mann heute immer noch am Gartenzaun stehend. Die Leute meinten daraufhin nur geringschätzig, dass er nicht viel von Arbeit halte. Der Kriegsinvalide hat sich nicht wieder erholt und ist nicht alt geworden."