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Thomas Kohlmeyer ist Sozialpädagoge im Polizeirevier Jerichower Land / Sein Ziel: Kriminelle Karrieren früh beenden

Von Anja Guse 18.05.2011, 06:25

Ben* (17) hat zwei Euro gestohlen, Linus* bummelte die Schule und Anna* (15) ließ im Supermarkt einen Lippenstift mitgehen. Sind diese Jugendlichen ein Fall für die Polizei? Ja, aber vor allem für Thomas Kohlmeyer. Der 49-Jährige ist Sozialpädagoge im Revier Jerichower Land. Seine Aufgabe: Kinder und Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, vor einer möglichen kriminellen Karriere bewahren. Im Fachjargon nennt sich das sozialpädagogische Krisenintervention.

Burg/Genthin. Das Problem von Ben* und Anna* ist nicht der Diebstahl, und Linus* ist auch kein Schulverweigerer per sé. "Die Vorladung zur Polizei hat oft ganz andere Ursachen", berichtet Thomas Kohlmeyer. Der 49-Jährige ist Sozialpädagoge bei der Polizei und weiß: Diese Taten sind meist nur trotzige Reaktionen. Aber worauf?

"Zum Beispiel auf zu wenig Zuneigung und Beachtung seitens der Eltern." So erlebte es Anna. Ihre Mutter arbeitete in einem Discounter, der Vater war als Fernfahrer selten zuhause. Da blieb für das pubertierende Mädchen kaum Zeit für Geborgenheit und ein intensives Familienleben. "Mit dem Ladendiebstahl stand sie plötzlich im Mittelpunkt", erzählt Thomas Kohlmeyer. "Damit hatte sie ihr Ziel zunächst erreicht, wenn auch mit einer unrühmlichen Tat."

Annas Fall ist einer von rund 260, die Kohlmeyer im Jahr im Jerichower Land betreut. 2010 waren es genau 261 junge Menschen bis 21 Jahre, die sein Gespräch suchten. Seit Februar 2008 gibt es diese Stelle im Landkreis.

Im dritten Stockwerk des Reviers in der Bahnhofstraße in Burg hat der Sozialpädagoge sein Büro. Während seine Polizeikollegen an grauen Schreibtischen sitzen, macht er es sich an Holzmöbeln und in hellen Korbsesseln bequem. Das gemütliche Zimmer steht allen offen - Tatverdächtigen, Tätern, Angehörigen, Freunden, Opfern, Ratsuchenden.

Die Gespräche finden hinter verschlossener Tür statt. "Alles, was hier erzählt wird, bleibt in diesem Raum", beteuert Kohlmeyer. "Ich arbeite zwar bei der Polizei, aber nicht für die Kollegen. Selbst wenn mir die jungen Leute von ihrer Straftat berichten, gebe ich keine Details weiter."

Dieser Fakt ist wichtig. Denn nur so können die Klienten Vertrauen zu ihm aufbauen. Vertrauen ist die Basis sozialpädagogischer Arbeit.

Das Gespräch bei Kohlmeyer wird den vorgeladenen Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden nach jeder Anhörung von der Polizei angeboten, doch es ist keine Pflicht. Anna traf die richtige Entscheidung, sie nutzte die Möglichkeit.

Ben tat es ihr gleich. Der junge Mann hatte die mangelnde Zuneigung seiner Eltern mit dem Diebstahl und der Einnahme von Speed, einem Amphetamin, kompensiert. Er wurde von der Droge abhängig, klaute das Geld, landete schließlich im Polizeirevier und kurz darauf bei Kohlmeyer im Zimmer.

"Wir hatten uns zunächst locker unterhalten, bis er mit seiner wahren Geschichte rausrückte", so der Pädagoge. "Ich fragte ihn beispielsweise, wie es ihm zuhause ergeht, welchen Beruf er machen möchte. Plötzlich hatte er Tränen in den Augen und meinte, seine Mutter würde ihn so etwas nie fragen, sie zeige keinerlei Interesse für seine Berufsentscheidung." Schließlich mündeten Bens Probleme und Sorgen in einer fast banalen Straftat, einem Diebstahl von zwei Euro, erzählt er.

Gemeinsam mit der Kompetenzagentur Jerichower Land und der Drogenberatungsstelle in Magdeburg soll Ben nun geholfen werden. Die Berufslaufbahn soll gefördert, der Drogenmissbrauch beendet werden. Die Kontakte stellt Kohlmeyer her. "Ich arbeite eng mit den Ämtern, Vereinen und sozialen Einrichtungen zusammen. Das ist sehr wichtig in meiner Arbeit."

Zur Kompetenzagentur wird Kohlmeyer den Jugendlichen begleiten, "damit er auch wirklich hingeht." Der Sozialpädagoge weiß: Werden die Klienten nicht an die Hand genommen, erreichen sie nur selten ihr Ziel. Auch deshalb ist sein Büro direkt bei der Polizei. "So können sie unmittelbar nach einer Anhörung oder der Tat zu mir kommen. Denn wer einmal seinen Fuß aus dem Revier gesetzt hat, ohne mit mir zu sprechen, wird nicht wiederkommen."

Doch Kohlmeyer fährt auch raus, geht in Schulen oder spricht in Jugendclubs mit Betroffenen. Manchmal bekommt er von Lehrern, Angehörigen oder Freunden Tipps. Oder Schulsozialarbeiter berichten von auffälligen Jugendlichen. Dann sucht er gezielt das Gespräch, klärt die jungen Menschen über ihr Handeln und die Folgen auf, zeigt Wege aus dem kriminellen Leben auf.

"Oftmals wissen die Jugendlichen nicht, welche Konsequenzen ihre Taten haben können", sagt Kohlmeyer. "Wenn sie hören, dass ihr Führerscheinerwerb wegen Drogenmissbrauchs in Gefahr ist, sind sie baff. Oder dass sie mit einer Vorstrafe eventuell nicht mehr zur Bundeswehr gehen können." Allein diese Aussagen würden schon zum Nachdenken anregen.

Kohlmeyer ist der einzige Sozialpädagoge bei der Polizei im Kreis. In Sachsen-Anhalt sind es insgesamt 35, innerhalb der PD Nord, zu der das Jerichower Land zählt, 19, berichtet Rainer Bode. Der 56-Jährige leitet die JUBP - die Jugendberatungsstellen bei der Polizeidirektion Nord. "Die Idee dazu kam 1992 aus unserem Partnerland Niedersachsen, das seinerseits ein Modell aus den USA übernommen hatte. Ziel war es, den damals sehr hohen Anteil tatverdächtiger Jugendlicher zu senken. Dieser lag bei knapp 40 Prozent", berichtet er.

Aus dem einst dreijährigen Projekt wurde eine Dauereinrichtung, anfangs nur in Magdeburg, Dessau und Halle. Später kamen laut Bode Merseburg, Halberstadt und Stendal hinzu. Seit Februar 2008 sitzt auch das Jerichower Land mit im Boot.

"Knapp 80 Prozent der vorgeladenen Tatverdächtigen im Jerichower Land kam im ersten Quartal dieses Jahres zur Anhörung zur Polizei. Davon nutzten knapp 90 Prozent unser Gesprächsangebot", sagt Bode.

Die Jugendkriminalität sei seit Jahren rückläufig. Doch dies hat viele Gründe. Einer davon könnte die JUBP sein. "Allerdings wäre es vermessen zu sagen, dass es wegen uns so ist ", so Bode.

Übrigens: Linus, der Schulschwänzer, geht wieder zur Penne. Er hatte nichts gegen das Lernen, aber ein großes Problem mit dem Busfahren. "Er wurde ständig von älteren Schüler gemobbt", erzählt Kohlmeyer.

* Name von der Redaktion geändert.