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Historiker zeichnet den Lebensweg des ehemaligen Genthiner Bürgermeisters nach (Teil I) Wilhelm Struß: Recherche über einen umstrittenen Mann

Von Klaus Börner 25.10.2012, 01:11

Über das Leben und Wirken von Genthins Bürgermeister Wilhelm Struß (1878 bis 1933) hat Dipl.-Historiker Klaus Börner recherchiert.

Genthin l Als im April 2005 im Stadtrat eine Entscheidung über den Straßennamen "Wilhelm Struß" im Gewerbegebiet Nord zur Diskussion stand, hatte sich nach wochenlangen Debatten die Mehrheit der Räte gegen dieses Vorhaben ausgesprochen (Volksstimme vom 2. und 19. April 2005). Die Ablehnung erfolgte diesmal nicht aus Geldmangel für das Straßenschild, sondern aus politischen Gründen. Die Gründe waren die 1933 bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Genthin gegen Struß vorgebrachten und bis heute nicht nachgewiesenen Korruptionsvorwürfe, insbesondere wegen seines großzügigen Wohnens in der Bahnhofstraße 8 (heute Sitz der Touristinformation), der daraufhin am 29. März 1933 Selbstmord begangen hatte. Struß hatte während seiner Amtszeit in der Weimarer Republik die parlamentarische Demokratie, das Mitbestimmungsrecht der Bevölkerung, mit eingeführt, auf die sich die Räte noch heute berufen und die oft mit harten Auseinandersetzungen entsprechend ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit zum Wohle unserer Stadt geführt werden.

Wer war das Genthiner Stadtoberhaupt, das während der widerspruchsvollen Zeit der Weimarer Republik (1920 bis 1933) die Geschichte Genthins gelenkt und geleitet hat? Heinrich Wilhelm Struß wurde am 11. Mai 1878 in Westerstege (Herzogtum Oldenburg) geboren und erlernte den Beruf eines Gerichtsaktuargehilfen (Katastermitarbeiter), ehe er in die allgemeine Verwaltungsarbeit einstieg und 1912 mit seiner Familie nach Jerichow übersiedelte, wo er als Bürgermeister bis 1918 tätig und seit 1904 mit Wilhelmine Luks verheiratet und Vater von fünf Kindern (drei Mädchen und zwei Jungen) war. Als sich Struß 1918/1919 nach dem suiziden Tod des damaligen Genthiner Stadtoberhauptes (28. Oktober 1918), dem gebürtigen Erfurter Kurt Neumann, um das Genthiner Bürgermeisteramt bewarb, befand sich das damalige deutsche Reich in einer revolutionären Wende von dem konservativen Kaiserreich in die bürgerlich-demokratisch-parlamentarisch ausgerichtete Weimarer Republik, mit der auch eine politisch-gesellschaftliche Umbildung verbunden war.

So wurden im Ergebnis der Novemberrevolution 1918 durch den zeitweilig bestehenden Arbeiter und Soldatenrat auf dem Rathaus und der Kreisverwaltung symbolisch rote Fahnen aufgepflanzt, die natürlich von den damaligen Hausverwaltern sofort wieder beseitigt wurden. Dennoch kam es in den kommunalen Stadt- und Kreisparlamenten durch Neuwahlen zu politischen Umbildungen. Struß, der Mitglied der bürgerlichen DDP (Deutsche Demokratische Partei) war, stand dem politischen Umbruch mit der am 11. August 1919 verkündeten Weimarer Reichsverfassung im Gegensatz zu seinem Vorgänger Kurt Neumann aufgeschlossen und wohlwollend gegenüber.

Wilhelm Struß wird 1919 einstimmig gewählt

Bei den ersten Wahlen zum Genthiner Stadtparlament am 6. März 1919 wurde einstimmig Struß zum neuen Bürgermeister der Stadt Genthin gewählt und entwickelte zu allen Abgeordneten ein vertrauensvolles Verhältnis, obgleich diese durch ihre parteipolitischen Bindungen unterschiedliche Interessen vertraten. Auch bei allen späteren Parlamentswahlen (1922, 1927, 1929) wurde Struß zum Oberhaupt der Stadt Genthin von den damaligen Räten wieder gewählt, und das sogar bei der letzten Wahl 1930, bei der Struß von den Räten sogar das Vertrauen für weitere zwölf Jahre ausgesprochen wurde. Nachgewiesen ist aber auch, dass die Wahlen oft wiederholt werden mussten, weil es bei den Wahlen nicht selten bei der Sitzverteilung der Räte zu Unstimmigkeiten kam. Das war vor allem bei der SPD-Sitzverteilung der Fall, weil sich die SPD-Räte im Stadtparlament als stärkste Fraktion (8 bis 10 Räte) behaupten wollten.

Die schwierigen und widerspruchsvollen Aufgaben, die Struß während seiner Amtszeit zu bewältigen hatte, waren unter anderem die Lösung der Folgen des verlorenen Ersten Weltkrieges mit der Entwertung der Reichsmark - der Inflation (1922 bis 1924) - sowie der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise (1929 bis 1932), in der viele neu aufgebaute und gegründete Betriebe sowie Unternehmen den Konkurs anmelden mussten und die Nationalsozialisten politisch auf den Plan rief, die sich in Genthin schon seit 1924 formiert hatten und zu einer dominierenden Kraft wurden. Das zeigte sich zum Beispiel an den Ergebnissen der Reichstagswahl am 6. November 1932, wo sich von rund 36 000 abgegebenen Stimmen 14 777 Genthiner Bürger für die NSDAP entschieden hatten.

Das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung, das mit großangelegten Propagandamärschen und chauvinistischen Veranstaltungen auf dem Marktplatz und im Schützenhaus verbunden war, löste damals auch im Genthiner Stadtrat heftige Diskussionen aus. Das wurde auch bei der Einführung des nationalistischen Arbeitsdienstes deutlich, als es um die Bereitstellung von Unterkünften des Genthiner Arbeitsdienstes ging, die von der Stadt organisiert und gelöst werden sollten. Den Auftrag dafür hatte damals am 13. Oktober 1932 der Abgeordnete Fritz Abrahm (Drogist) eingebracht und wurde nur mit knappen Gegenstimmen abgelehnt. Auch das Stadtoberhaupt Wilhelm Struß hatte sich damals gegen die Einführung des Arbeitsdienstes ausgesprochen.

Die von Struß in der Zeit der Weltwirtschaftskrise einberufenen Stadtverordnetenaussprachen waren nachweislich von den Abgeordneten oft schlecht besucht, weil bei den Beratungen wie heute immer wieder die gleichen Probleme (Geldknappheit, Teuerungsrate) auf der Tagesordnung standen. Damals waren es vor allem die von der Reichsregierung immer wieder neu beschlossenen "Notverordnungen", die die Kommunen immer wieder zum "Sparen" aufforderten und die Bevölkerung mit neuen Preiserhöhungen (Steuererhöhungen für Waren des täglichen Lebens) konfrontierten und zu Protestveranstaltungen auf die Straße trieben, wie das im Juli 1932 in Genthin der Fall war.

Marktplatz, Geschäfte: Genthin entwickelt sich gut

Als sich Struß im November 1919 für die freigewordene Stelle als Bürgermeister der Stadt Genthin entschieden hat, müssen ihn damals vermutlich die guten verkehrstechnischen Bedingungen mit dem ausgebauten Elbe-Havel-Kanal, der erschlossenen Eisenbahn und ausgebauten Fern- und Binnenstraßen für eine wirtschaftlich und siedlungsgeschichtliche Weiterentwicklung der Kanalstadt gereizt haben.

Seit 1816, als die Provinz Sachsen-Anhalt mit Verwaltungssitz in Magdeburg (Regierungsbezirk) gebildet wurde, wurde Genthin auch Verwaltungsmetropole für den damals neu gegründeten Landkreis Jerichow II mit insgesamt drei Landstätten (Genthin, Jerichow, Sandau) und 156 Ortschaften und hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der Ansiedlung erster Großbetriebe (Zuckerfabrik, Stärkefabrik) und zahlreichen Kleinbetrieben entlang des Kanals von einer kleinbürgerlichen Ackerbürgerstadt zu einer entwicklungsfähigen Industriestadt gemausert.

Genthin hatte zu Beginn der 20er Jahre rund 10 000 Einwohner, 391 Unternehmer, 1 457 Handwerker und fast die gleiche Anzahl Händler. Von den Einwohnern standen 1925 7919 Arbeitnehmer in Lohn und Brot, von denen 77 Prozent in der Stadt und 23 Prozent auf dem Lande lebten. Auch siedlungsgeschichtlich hatte sich Genthin gut entwickelt. Es gab einen ausgebauten zentral gelegenen Marktplatz für Händler und öffentliche Veranstaltungen sowie für die Verwaltung der Stadt ein Rathaus, das erst 1889/90 neu errichtet worden war. Hinzu kamen entwickelte Versorgungsstraßen mit attraktiven Geschäftshäusern aus dem Gründungsjahr, von denen nur wenige nach der politischen Wende 1989/90 überstanden haben.

(wird fortgesetzt)