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Erna Ziemann feierte im Sternenhaus ihren 90. Geburtstag "Ich muss auch geben, damit der andere sich öffnet"

Von Renate Petrahn 11.12.2014, 01:13

Eine Frau, die andere zum Lächeln bringt. Das ist Erna Ziemann. Seit vielen Jahren lebt sie in Halberstadt, mittlerweile feierte sie ihren 90. Geburstag.

Halberstadt l Gleich, ob der Raum mit vielen oder wenigen Menschen gefüllt ist. Diese Frau zieht die Blicke auf sich. Es sind die Augen und der besondere Ausdruck in ihrem Gesicht, der Interesse weckt. Sie weiß darum und setzt diese Gabe dafür ein, anderen Menschen zu helfen. Das hat sie ihr Leben lang getan, erst waren es die Eltern und später Kinder in Not.

Mittlerweile hat Erna Ziemann das 90. Lebensjahr erreicht. Doch alt im Sinne von nicht mehr am täglichen Leben teilnehmen zu wollen, ist sie keineswegs. Die Gegenwart bleibt weiterhin wichtig für sie, um den Gottesdienst zu feiern, für gemeinsame Stunden mit den Mitbewohnern im Sternenhaus, für Musik und für Bücher. Und wenn man Glück hat, schwäbelt sie mit ihren Gästen.

Die großen historischen Veränderungen im 20. Jahrhundert haben auch ihr Leben geprägt. Aufgewachsen ist Erna Ziemann in Neu-Postal, 120 Kilometer von Odessa entfernt. 200 Jahre zuvor waren ihre Vorfahren in das damalige Bessarabien, heute zur Ukraine gehörig, ausgewandert. Auch dort hatte Zar Alexander I. Anfang des 19. Jahrhunderts Land für die Kolonisten gekauft. Um die schwere Situation der ersten Siedler zu beschreiben, zitiert Erna Ziemann gern: "Die erste Generation erntete den Tod, die zweite die Not, die dritte das Brot". Zusammengehalten hat die Bessarabiendeutschen ihr Glauben. Der Pietismus hat ihnen Kraft und Stärke gegeben. "Mit der Bibel und dem Gesangbuch lernten die Kinder lesen und schreiben".

Erna Ziemann gehört zur vierten Generation der in Neu-Postal ansässigen schwäbischen Bauern. Sie wuchs behütet und frei mit einer Schwester und zwei Brüdern auf. Die günstigen Produktions- und Verkaufsbedingungen für Getreide und weiterer landwirtschaftlicher Erzeugnisse erlaubten ein wirtschaftlich auskömmliches Leben, das 1940 jäh endete. Angesichts der bevorstehenden Zurückgabe des Gebietes an die von Stalin regierte Sowjetunion verließen die Ziemanns wie viele Hunderte anderer Deutsche ihre Heimat und ließen sich nach einem Jahr im Sudetenland im ehemaligen Warthegau in Polen nieder.

Doch auch hier konnten sie keine Wurzeln schlagen. 1945 war die Familie erneut auf der Flucht gen Westen. Ein Neuanfang wurde nach Kriegsende im Mansfeldischen gewagt. Mit der Bodenreform wurden ihre Eltern Neubauern. Erna Ziemann selbst, die ihre Mittlere Reife unter komplizierten Bedingungen noch vor Kriegsende erworben hatte, begann zunächst in einer bäuerlichen Handelsgenossenschaft zu arbeiten. Nach einem erfolgreich abgeschlossenen Fernstudium war sie als Handelsleiterin tätig.

Mit den Jahren wuchs ihr Bedürfnis, in neuen Arbeitsfeldern tätig zu sein. Um ihren Glauben aktiv zu leben, absolvierte Erna Ziemann mit 42 Jahren eine Ausbildung am Burckhardthaus in Berlin, die für zukünftige Pfarrfrauen angeboten wurde. Zehn Jahre lang brachte sie in sechs Orten Kindern das Christentum nahe. Für weiterführende Qualifizierungen nutzte die "Laienkatechetin" die Sommerferien. 1976 kam Erna Ziemann nach Halberstadt und arbeitete zwölf Jahre in der Verwaltung des Cecilienstiftes. Und immer blieben ihr Herz und ihre Tür offen für Menschen und vor allem für Kinder in Not.

Nach der Wende gründete sie mit Gleichgesinnten den Kinder- und Jugendnotdienst der Arbeiterwohlfahrt in Halberstadt. Für ihre gelebte Nächstenliebe wurde Erna Ziemann mehrfach ausgezeichnet, aber darüber spricht sie nicht. Im Fokus steht immer der Andere, denn "ich muss auch geben, damit der andere sich öffnet".

Seit einigen Jahren bewohnt sie im Sternenhaus eine kleine Wohnung mit Balkon, "die erste in meinem Leben", wie die Seniorin sagt. Von hier aus hat sie einen wunderschönen Blick auf den großen Garten, der sie ein wenig an ihre Jugendzeit erinnert. 1994 hat sie ihre alte Heimat mit dem hohen Himmel und den Lerchen, an die sie sich ein Leben lang erinnerte, besucht. Besonders bewegend war für sie ein Wiedersehen mit Freunden und guten Bekannten. Groß ist die Zahl der Menschen, die Erna Ziemann mit ihrer optimistischen Grundhaltung geprägt hat: "Das Leben kann schön sein. Es liegt an uns, den Menschen, wie wir es gestalten".