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Ute und Manfred Kwiran sind in Wülperode heimisch geworden / Café in einem Dorf, das 40 Jahre ohne seinen Namen war Eine verrückte Idee im Niemandsland

Von Mario Heinicke 06.08.2011, 06:30

Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, vollendete die DDR den Berliner Mauerbau. Später folgte ein Eiserner Vorhang quer durch Deutschland. Auch der heutige Harzkreis war davon betroffen. Die Volksstimme besuchte ehemalige Grenzorte und traf dort Menschen, die jahrzehntelang unmittelbar am Zaun lebten, die ihn bewachten, aber auch Menschen, die erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dort hinzogen. Wie Ute und Manfred Kwrian in Wülperode.

Wülperode. Es ist Freitagnachmittag. Den ganzen Morgen war es kühl und nass. Jetzt kommen erste Sonnenstrahlen in Wülperode an. Die Stühle im Garten des Cafés "Zur Alten Tischlerei" sind noch leer. Wer sollte sich auch hierhin, ins jahrzehntelange Niemandsland im Okertal, noch dazu unter der Woche an solch einem bisher trüben Tag verirren?

Ute und Manfred Kwiran holen schon mal ein schönes Foto heraus, zum Abdrucken gedacht. Bei schönerem Wetter und mit vielen Gästen im Café aufgenommen. Doch es kommt anders. Draußen auf der Dorfstraße halten Autos. Wolfenbütteler, Helmstedter, Braunschweiger Kennzeichen. Woher kennen die Gäste das Café im 200-Seelen-Dorf Wülperode, im Osten gelegen, für das es von der nahen Autobahn 395 kein Hinweisschild gibt?

Wülperode kannten Ute und Manfred Kwiran bis vor 13 Jahren auch noch nicht. Dabei hatte das Dorf zu der Zeit seine erste Blüte schon hinter sich. 1995 wurde es schönstes Dorf in Sachsen-Anhalt und 1996 sogar beim Bundeswettbewerb zur "Grünen Woche" in Berlin mit einer Bronzemedaille ausgezeichnet.

Kwirans sind Zugezogene - aus dem Westen. Sie aus Börßum, er aus einem Dorf bei Hildesheim. Beide arbeiteten bei der Landeskirche in Braunschweig. Manfred Kwiran ist streng genommen gar kein Deutscher, sondern Amerikaner. Geboren im damals deutschen Westpreußen, ging er 1954 mit 15 Jahren in die USA und kehrte erst 1973 nach Deutschland zurück. Bis heute ist er amerikanischer Staatsbürger und damit nicht der einzige Ausländer in Wülperode, gegenüber hat sich zum Beispiel ein Engländer niedergelassen. Ute Kwiran kannte immerhin schon Rhoden, ebenfalls ein Grenzdorf, dort hatte sie Verwandtschaft. Aber Wülperode? Dieser Name war zu DDR-Zeiten aus Landkarten und von Ortsschildern verschwunden. Stattdessen stand überall Dreirode - für das Trio Göddeckenrode, Suderode und Wülperode.

Wülperode lernten Kwirans 1998 durch - die mittlerweile verstorbene - Brunhilde Langelüddecke kennen. Sie war seinerzeit Chefin im Kloster Drübeck, wohin Manfred Kwiran kam, um Katecheten für den Religionsunterricht auszubilden. Ute und Manfred Kwiran hatten sich im Amt für Religionspädagogik der Landeskirche Braunschweig kennengelernt. Er war dessen Leiter, sie eine Mitarbeiterin. Und nun suchten sie ein Haus, um zusammenzuziehen. Brunhilde Langelüddecke lud sie daraufhin ein, mal nach Wülperode zu schauen. Sie entdeckten das kleine Bauernhaus in der Dorfstraße neben einer früheren Tischlerei. "Ich habe ein Faible für solche Häuser. Mein Mann hat nur die Eiche auf dem Grundstück gesehen", sagt Ute Kwiran. So war jeder auf seine Weise begeistert.

Kwirans waren bei weitem nicht die Ersten aus dem Westen, die von Wülperode begeistert waren und dort ein Grundstück kauften. Anfängliche Zweifel der Einheimischen, ob es sich bei Kwirans wohl um Spekulanten handelt, waren offenbar schnell ausgeräumt. Spätestens, als so viele Firmen aus dem östlichen Harzvorland das denkmalgeschützte Haus sanierten und Manfred Kwiran mit einem Lkw seine Bibliothek mit 30 000 Büchern heranfuhr. Die braucht er immer noch beruflich, denn an der Theologischen Fakultät der Universität Bern hat er nach wie vor eine Professur. Sein korrekter Titel: Prof. Dr. Dr. Dr. "Schreiben Sie aber nur Manfred Kwiran", sagt er, "schließlich sind wir zu Hause in Wülperode".

Anfängliche Zweifel an den "Spekulanten" schnell ausgeräumt

Die Nachbarin, die Witwe eines Tischlermeisters, verstarb etwa zwei Jahre nach Kwirans Einzug, und der Erbe bot ihnen das Haus zum Kauf an. Sie waren längst angekommen im Dorf, fühlten sich wohl hier. Ginge es nach Manfred Kwiran, so hätte er vom Nachbargrundstück nur eine Wiese übernommen, um sich seinen Traum von einem kleinen Wäldchen zu erfüllen. Seine Wiese hatten schon die vielen Hühner und Enten in Beschlag. Aber es hieß: alles oder nichts - also wurde es alles.

Wieso wissen Besucher aus Berlin: "Da müsst Ihr unbedingt hin!"?

Die Idee, aus der alten Tischlerei ein Café zu machen, kam über Nacht. Ein Café mit Tagungsraum und Fremdenzimmern. Eigentlich eine verrückte Idee - im idyllischen, aber eben abgeschiedenen Wülperode. Noch dazu, wo seinerzeit die meisten Menschen mit Anfang 60 längst in Rente waren, also auch Kwirans sich hätten zur Ruhe setzen können. Stattdessen steckten sie ein zweites Mal viel Geld in ein denkmalgeschütztes Haus. Fördermittel erhielten sie nicht, aber den Dank der Denkmalschützer, der sich auch darin ausdrückte, dass hier 2001 der Tag des offenen Denkmals für Sachsen-Anhalt eröffnet wurde. Dank ihrer alten Kontakte zur Landeskirche kam schnell Leben ins Café. Der Braunschweiger Landesbischof weihte sogar das Haus, im Sommer vor zehn Jahren.

"Kennen Sie mich noch?", fragt plötzlich am Café-Tisch ein Gast den Hausherrn. Ein alter Kollege aus der Kirche hat Wülperode besucht. "Manchmal kommen Besucher aus Frankfurt/Main oder Berlin. Und die sagen dann: Wir haben gehört, da müsst ihr hin." Ein Erklärungsversuch von Ute Kwiran, warum das Café so bekannt ist. Diesen Sommer gab der Braunschweiger Sänger Michael Strauss schon zwei Konzerte in Wülperode, jeweils Wochen vorher ausverkauft. Im August gibt er ein drittes, ebenfalls längst ausverkauft.

Doch was wäre das Café ohne die Wülperöder. Einige spendeten 2001 vor der Eröffnung Mobiliar zur Einrichtung, 13 Frauen waren damals gekommen, um vor dem großen Tag Ute Kwiran zu Hand zu gehen. Ihre größte Freude ist es, wenn man im Dorf von "unserem Café" spricht. Eine Frauengruppe trifft sich hier zum Beispiel regelmäßig.

"Wir sehen uns als Begegnungsstätte der Menschen aus Ost und West", betont Ute Kwiran. Anlässe dafür gibt es viele. Besagte Konzerte, die Schmuck- und Silbertage, Oster- und Weihnachtsmärkte. Zumal das Völkchen der Wülperöder selbst aus Ossis und Wessis durchmischt ist. Die Idylle im Okertal ist von vielen als solche erkannt worden. Leere Häuschen hier sind Mangelware. Kwirans sind Mitglied im 1000-Jahre-Verein geworden, ebenso im Kirchbauverein. In Wülperode unternehmen die Einwohner noch viel gemeinsam. Wenn Gäste im Café es wünschen, führt der Ur-Wülperöder Werner Plettner sie durchs Dorf, erzählt aus der Geschichte und hat auch viel über die Zeit als Grenzdorf zu berichten. Hier gab es eine Grenzkompanie, direkt hinterm westlichsten Haus erhob sich bis 1990 der schwere Metallzaun.

Dass Wülperode heute am touristisch vermarkteten "Grünen Band" liegt, hat man auch Ute Kwiran zu verdanken. Sie machte Druck, als das Dorf zuerst nirgendwo auftauchen sollte. Heute führt die ausgeschilderte Route mittendurch. Immer mehr Wanderer und Radlergruppen kommen nun durch Wülperode. Hier wanderte 2007 auch ein Fred Sellin durch, ein Journalist aus Hamburg, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt. Er nahm Quartier in der "Alten Tischlerei", schrieb später ein viel beachtetes Buch über seine Tour auf dem 1400 Kilometer langen Grenzpfad. Zweimal kam er bereits nach Wülperode, um aus seinem Buch im Café vor Menschen dies- und jenseits der heutigen Landesgrenze vorzulesen.

Kwirans waren dabei, als Wülperode in den vergangenen vier, fünf Jahren ein zweites Mal aufgeblüht ist. Ein kräftiger Gewerbesteuerzahler ließ sich im "Steuerparadies" Wülperode nieder und fortan die Geldquelle sprudeln. Die Bürgerschaft - einschließlich der Göddeckenröder und Suderöder - wurde nach ruhigen Jahren wieder geweckt und diskutierte, was man mit den - angesichts der Gebietsreform endlichen - Millionen anstellen sollte. Ein neuer Kindergarten, ein neues Feuerwehrgerätehaus, sanierte Straßen - die Lebensqualität hat sich nach Einschätzung der Kwirans nochmals erhöht. Zumal noch bürgerschaftliche Initiativen wie der Naturdörferverein entstanden. Nur dieser helle Kies auf den Fußwegen, der war aus ihrer Sicht ein Fehlgriff. Vor ihren beiden Grundstücken findet man ihn daher nicht.

Manfred Kwiran war mehrfach als Zaungast dabei, als der Gemeinderat versuchte, die Millionen sinnvoll zu investieren. Er stand in der ersten Reihe der Protestler, als in Osterwieck die Sekundarschule geschlossen wurde und die Wülperöder Schüler durch den viel weiteren Schulweg nach Dardesheim nun besonders darunter zu leiden haben. Über diese Entscheidung der Politik kann er sich heute noch aufregen. "Wir sind hier zu Hause", betont Manfred Kwiran, der Amerikaner, der Weltbürger, ein weiteres Mal.

Sein Ansiedeln in Wülperode bereut er "in keinerlei Weise". Dort findet er die Ruhe, die er benötigt, um seine wissenschaftlichen Vorträge vorzubereiten. Dort hat er aber auch eine tolle Straßenverbindung, um zu den Orten seiner Vorträge zu kommen.

Nur dieser helle Kies auf den Fußwegen ist ein Fehlgriff

Ute Kwiran hat mit der verrückten Idee vom Café in Wülperode auch eine Aufgabe fürs Alter gefunden, die sie unter Menschen bringt, denen sie Freude bereiten kann. Zwei Mitarbeiterinnen - aus Berßel und Osterwieck - sind beschäftigt, ohne die das Café nicht laufen würde.

Wie lange Kwirans die Arbeit mit dem Café noch auf sich nehmen, wissen sie selbst nicht. Jetzt sind sie 72. "So lange wie es noch solchen Spaß macht." Die Sonne tut also gut daran, noch oft über Wülperode zu scheinen.

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