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Zeitzeugin Ute Juschus erzählt über ihr Leben in Groß Grabenstedt Wie der eiserne Vorhang ein pulsierendes Dorf zerstörte

Von Peter Hintze 02.08.2011, 04:33

Am 13. August jährt sich der Bau der innerdeutschen Mauer zum 50. Mal. Der eiserne Vorhang hat Ute Juschus, Jahrgang 1945, das Heimatdorf genommen - Groß Grabenstedt. Ihre und andere Geschichten sind in wenigen Tagen Thema einer MDR-Fernsehsendung.

Groß Grabenstedt. Ute Juschus hat eine ganz besondere Beziehung zu dem kleinen Dorf namens Groß Grabenstedt. 1945, im Jahr des Kriegsendes, hat die Altmärkerin dort das Licht der Welt erblickt. Heute erinnert (fast) nichts mehr an den idyllischen Ort mit seinen Bauernhöfen, der alten Dorfschule und der Jahrhunderte alten Feldsteinkirche. Groß Grabenstedt ist buchstäblich von der Landkarte verschwunden. Das Dorf wurde zu DDR-Zeiten geschliffen - wie so viele östlich der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze.

"Natur pur... Es war wirklich herrlich"

"Ich bin in der Feldsteinkirche getauft worden", erzählt die mittlerweile pensionierte Lehrerin im Gespräch mit der Volksstimme. Groß Grabenstedt - das ist für die Henningerin mehr als die noch übrig gebliebene Scheune und die jüngst errichtete Biogasanlage. Es ist jene Heimat, die ihr der Arbeiter- und Bauernstaat mit dem Mauerbau 1961 einige Jahre später für lange Zeit genommen hat.

"1951 bin ich in der dortigen Schule eingeschult worden", blickt Ute Juschus zurück. Schön sei sie gewesen und unbeschwert - die Kinder- und Jugendzeit. "Im Dorf pulsierte das Leben", kramt sie in Erinnerungen. Sechs Großbauerngehöfte, sogenannte Vier-Seiten-Höfe, eine Wassermühle, die Feldsteinkirche, ein kleines Bauerngehöft, sechs Arbeiterwohnhäuser, eine Gaststätte, die Feuerwehr und die Schule, umgeben von Laubwäldern, Wiesen und Äckern. "Natur pur. Es war wirklich herrlich", schwärmt die Henningerin. In Groß Grabenstedt hat sie ihre Familie gegründet - ein Ort, der wie viele andere durch den eisernen Vorhang ausradiert wurde.

Etwa 100 Menschen, schätzt die Zeitzeugin, haben in den 1950er Jahren in Groß Grabenstedt gelebt. Tendenz fallend. Bereits mit dem Einrichten der Sperrzone im Jahr 1952 wurden unbequeme Zeitgenossen und potenzielle Republikflüchtlinge um- und ausgesiedelt - auch aus Groß Grabenstedt.

Von der sogenannten Aktion "Ungeziefer" waren seinerzeit auch Bekannte von Juschus betroffen. "Ich wohnte in einem Bauernhaus zur Miete. Die Bauern waren nach Eilenburg ausgesiedelt worden", berichtet die ehemalige Lehrerin. Auch ihre Familie sollte einmal ihre Habseligkeiten packen müssen.

Denn die innerdeutsche Grenze wurde verstärkt. "1961/62 kam der Stacheldraht hinzu. 1972/73 wurden der Signalzaun und die Hundelauftrasse installiert", sagt Ute Juschus. Und weiter: "Es durfte keiner mehr rein." Für die Kinder sei es ein Abenteuergebiet gewesen. Ihre Familie erhielt 1975 die Mitteilung, sich eine neue Wohnung suchen zu müssen. Den drohenden Verlust der Heimat sah Ute Juschus damals mit anderen Augen - es war Normalität. "Wir haben in Henningen gebaut und 1979 Groß Grabenstedt verlassen", erzählt Ute Juschus, die 45 Jahre als Lehrerin in Henningen arbeitete. "Zu sechst sind wir nach Henningen gezogen." Über die Jahre erlebte sie mit, wie ihr Heimatdorf mehr und mehr verfiel. Leer gezogene Häuser wurden einfach sich selbst und somit dem Verfall überlassen. Die Folge: Allmählich wurde so der komplette Ort geschliffen.

"Will Kindern und Enkeln erzählen, wie es einmal war"

"Meine Schwiegermutter habe ich 1986 als eine der letzten Einwohnerinnen aus Groß Grabenstedt abgeholt. Danach wurden die letzten Gebäude dem Erdboden gleich gemacht", denkt Ute Juschus zurück.

Heute, mehr als 20 Jahre nach der politischen Wende in der DDR, kämpft die ehemalige Groß Grabenstedterin mit gegen das Vergessen. Sie hat begonnen, Material zusammenzustellen. Historische Dorfan- sichten, Fotos aus dem Familienalbum, Kartenmaterial: Die Aufzeichnungen füllen mittlerweile ganze Ordner. "Ich will den Kindern und meinen Enkelkindern erzählen, wie es einmal in Groß Grabenstedt war", wird Ute Juschus nachdenklich. "Es ist ja meine Heimat."

Diese Sammelleidenschaft und die besondere Beziehung zu Groß Grabenstedt haben Ute Juschus und Janett Hesse zusammengeführt. Die Fotografin hat das Buch "Befriedet - Vergessene Orte an der ehemaligen innerdeutschen Grenze" (ISBN 978-3-941378-33-9) herausgegeben.

Oft zieht es Ute Juschus in den heute ausgelöschten Ort ihrer Kindheit und Jugend zurück. Einst mit Schulklassen im Rahmen des Grundschulunterrichts, heute eher privat. "Besonders im Frühjahr bin ich gern in Groß Grabenstedt", schwärmt die Pensionärin. Sie liebt die riesigen Bärlauchflächen, die Maiglöckchen und Buschwindröschen des Ortes. Die Henningerin ärgert sich darüber, dass die Informationstafel und das Ortsschild verschwunden sind. Die Geschichte von Ute Juschus ist voraussichtlich am Mittwoch, 10. August, ab 19 Uhr Thema einer MDR-Fernsehsendung. "Sachsen-Anhalt heute" wird sich des Themas annehmen.