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Klassenkampf und christliches Glaubensbekenntnis: Stickbilder waren zu Kaisers Zeiten Mode August Bebel und Jesus überm Sofa

Von Thomas Linßner 21.11.2014, 02:15

Der Barbyer Sammler Dieter Schlueter grub bei einer Haushaltsauflösung die Gründer der Sozialdemokratischen Partei aus: Ferdinand Lassalle, August Bebel und Paul Singer. Sie sind auf einem Papiercanevas vereint.

Barby l Ehe der geneigte Leser diesen Artikel ignoriert, weil ihm gleich ein Fremdwort vors Auge geknallt wird (mit dem er höchstwahrscheinlich nichts anfangen kann), sei erklärt: Das französische Wort "Canevas" kann auf deutsch "Grundgerüst", "Gitternetz" oder "Siebtuch" bedeuten.

Ein Papiercanevas ist in diesem Falle ein Stickbild. Aus heutiger Perspektive ein fürchterlich kitschiges Ding, das vor allem Ende des 19. Jahrhunderts als Raumzier große Mode war und in modernen Archiven unter dem Stichwort "Haussegen" aufbewahrt wird.

Bedient wurde von den wilhelminischen Bild-Gestaltern eine breite Themenpalette in fleißiger Handarbeit. Die reichte von der Mutterliebe, über religiösen Schwulst bis hin zum Klassenkampf mit nationalem Pathos.

Mehrere Stickbilder

Der Barbyer Sammler Dieter Schlueter fand kürzlich mehrere Stickbilder bei einer Haushaltsauflösung. Das interessanteste ist den SPD-Gründern gewidmet. Es zeigt Ferdinand Lassalle, August Bebel und Paul Singer. Ihre oval ausgeschnittenen Fotografien werden von den Worten eingerahmt: "Wir wollen den Frieden / Freiheit und Recht / Dass niemand sei des Andern Knecht / Dass Arbeit aller Menschen Pflicht / und Niemand es an Brod gebricht". Unter den Sozialdemokratischen Gründer-Konterfeis findet man gepresste Blumen und Gräser. Verwendet wurden mehrere Stickgarne, auch gold- und silber- gefärbte sind darunter.

Das Stickbild ist vor der Rechtschreibreform von 1901 entstanden. Das verrät die Schreibweise von "Brod".

Stellt sich die Frage, wer sich Ende des 19. Jahrhunderts so was in das Wohnzimmer hängte? Es muss auf jeden Fall jemand gewesen sein, der den Idealen der Sozialdemokratie nahe stand. "Dass niemand sei des Andern Knecht / Dass Arbeit aller Menschen Pflicht ..."

Zu diesem Zeitpunkt war es schließlich nicht lange her, als Reichskanzler Otto von Bismarck 1878 das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" (Sozialistengesetz) durchsetzte. Nach dessen Aufhebung 1890 ging es mit der SPD steil bergauf, die sich durch steigende Mitgliederzahlen und gute Wahlergebnisse zu einer Massenpartei mauserte.

Wie Sammler Dieter Schlueter sagt, hätten in dem Haus vor drei, vier Generationen Landwirte gelebt. Zum damaligen Zeitpunkt war Barby landwirtschaftlich geprägt, es gab kaum Industrie. Ein Landwirt mit sozialdemokratischen Ambitionen? Interessant.

Doch neben der politischen Ausrichtung fand Schlueter in dem Haus noch andere Papiercanevas, die man eher in Klein-Barby zu Zeiten des Kaisers vermutet: Es ist ein Kreuz tragender Christus mit Heiligenschein. Ihn umrahmt der vorwurfsvolle Frage- und Ausrufesatz: "Das that ich für dich, was thust du für mich (?)" Soll heißen: Jesus Christus hat sich mit seinem Leben für die Menschen geopfert und deren Schuld auf sich genommen. Vermutlich sollte der Betrachter daran erinnert werden, mal wieder den Gottesdienst zu besuchen.

Der dritte Bildfund darf in die Rubrik Spruchweisheiten eingeordnet werden, als in Deutschland und Österreich noch Kaiser und in Bayern ein König regierten: "Wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden".

Hätte Dieter Schlueter, der täglich mit allen Sinnen (und einem leeren Beutel) das Städtchen durchstreift, nicht gehandelt, wären die Stickbilder vermutlich im Müll gelandet.

Nun wird man die Funde sehen können, wenn er im September und Oktober 2015 eine große Barby-Ausstellung in der Augustusgabe macht. Dann hängen die Genossen, Christus und die Mutter einträchtig nebeneinander.