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  7. Kommunalwahl 1990: Aller Anfang ist schwer

Heute vor 25 Jahren stimmen Bürger erstmals frei über ihre künftigen Kreistagsvertreter ab Kommunalwahl 1990: Aller Anfang ist schwer

Von Olaf Koch, Massimo Rogacki, Ulrich Meinhard, Thomas Linßner, Kathleen Radunsky und Fabian Biastoch 06.05.2015, 01:23

Am 6. Mai 1990 fanden die ersten freien Kommunalwahlen in der ehemaligen DDR statt. Der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung war Herausforderung und Chance zugleich. Erstmalig ging es heute vor 25 Jahren auch um den Einzug in den Schönebecker Kreistag. Die Volksstimme hat mit einigen Abgeordneten der ersten Stunde gesprochen.

Reiner Hornich:

Die Kommunalwahl vor 25 Jahren war auch der Start für das politische Engagement von Reiner Hornich. "Ich bereue nichts", sagte er im Rückblick zur Volksstimme. "Ich habe mich in den Jahren zwar manchmal geärgert, aber viel mehr Freude an dieser Arbeit gehabt." Und was auch andere Wegbegleiter dieser Zeit resümieren: "Man konnte tatsächlich auch sehen, dass man mit der Kommunalpolitik etwas verändern kann", analysiert Reiner Hornich. Über die Liste der Sozialdemokraten kam der Parteilose in den Schönebecker Kreistag.

Die CDU, die damals die stärkste Fraktion bildete, nahm sich das ungeschriebene Recht, auch den Vorsitzenden zu stellen, die anderen Parteien einen der Stellvertreter: An erster Stelle rangierte der engagierte Reiner Hornich. Wohl gerade wegen seiner Neutralität ohne Parteibuch in der Tasche und ohne Zwang im Hintergrund, war er schnell geachtet. Zwischenzeitlich, nach einem Personalwechsel, übernahm der 1. Stellvertreter des Kreistages den Vorsitz, was nicht immer einfach war, weil gerade von außen und von Politprofis die Kraft einer Partei in den Vordergrund geschoben wurde und nicht immer die Sachpolitik. So erinnert sich Reiner Hornich an eine unangenehme Begegnung mit dem damaligen Ministerpräsidenten Werner Münch von der CDU, der ihn - Hornich - als Kreistagsvorsitzender in typischer Kohl`scher Manier links liegen ließ. "Achtung gegenüber einem Amt sieht anders aus", sagt er.

Hornich ist ruhiger geworden

Heute kann Hornich über solche Episoden lächeln. Er ist ruhiger geworden. Beim Rückblick auf 1990 und die Folgejahre sucht Reiner Hornich den Ausgleich. Er spricht sehr oft von "wir". Auch auf die Frage, welche brisanten und spannenden Dinge damals im ersten frei gewählten Kreistag beschlossen wurden, zählt er Beschlüsse auf, die mehrheitlich auf den Weg gebracht wurden: eine Satzung für den Kreistag mit einer Geschäftsordnung, der Bau von Kläranlagen im Kreis, die Besetzung der Fachämter, die Schließung offener Deponien und der gleichzeitige Aufbau einer funktionierenden Abfallentsorgung sowie die Überprüfung der Kollegen auf eine Mitarbeit im Staatssicherheitsdienst der DDR. Offene und faire Politik, so blickt Hornich zurück, musste noch gelernt werden. "Das demokratische Handeln, die Akzeptanz der anderen Meinung und der Umgang miteinander waren nicht immer so ausgeprägt wie heute. Es war insgesamt ein schwieriger Anfang", zieht er einen Strich. Nach einer Legislatur im Kreistag ließ er sich für den Stadtrat Schönebeck wählen, war zwischenzeitlich doch noch Mitglied in der SPD, später aber in der Unabhängigen Wählergemeinschaft. "Ich wollte mich einer Gruppe anschließen, die mich und meine Meinung aushält", sagt der heute 72-Jährige, der nun auch ohne aktive Kommunalpolitik sehr gut leben kann. Erst im vergangenen Jahr zog er sich aus dem Stadtrat zurück.

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Klaus Jeziorsky:

"1990 war definitiv ein Neuanfang", sagt Klaus Jeziorsky. Als Kommunalpolitiker der ersten Stunde war er bei der Kommunalwahl am 6. Mai vor 25 Jahren in den Schönebecker Kreistag gewählt worden. Die zentrale Steuerung war passé. Es galt nun, die kommunale Selbstverwaltung in die Tat umzusetzen. Der heute 64-Jährige brannte für diese Aufgabe, wollte sein direktes Umfeld erstmalig ganz im Sinne der Bürger gestalten.

Dass sich der gelernte Elektromonteur und spätere Bankkaufmann in jenen Tagen des demokratischen Aufbruchs für die Zugehörigkeit zu den Christdemokraten entschied, war kein Zufall. "Die CDU sprach sich deutlich für ihre Idee von der Wiedervereinigung aus. Das war der Grund dafür, vor den Kreistagswahlen in die Partei einzutreten", sagt Jeziorsky. Als es dann daran ging, eine Position im Kreistag zu bekleiden, gab es nicht wenige Mitstreiter, die sich für ihren damaligen Beruf und gegen die Politik entschieden. Nicht so Jeziorsky.

Zunächst lässt er sich für vier Jahre bei seinem damaligen Arbeitgeber, dem Energiekombinat Magdeburg, freistellen. Alles geht in dieser Zeit Schlag auf Schlag: "Man wusste eigentlich noch gar nicht genau, was sich hinter einer Kandidatur für den Kreistag verbirgt und plötzlich war man am 6. Mai gewählt," erinnert sich Jeziorsky. Mit mehr als 40 Prozent der Stimmen hätte das Votum für die CDU kaum klarer ausfallen können.

Die Bürger hatten den Auftrag erteilt, was fehlte, war bekanntlich die Blaupause. Da das richtungsweisende Gesetz zur kommunalen Gesetzgebung der DDR erst Mitte Mai von der Volkskammer verabschiedet werden sollte, "wusste beim ersten Treffen noch niemand so genau, wie die Organisation auf Kreisebene einmal aussehen würde", so Jeziorsky. Die Zeit nach den Wahlen sei somit sicherlich die spannendste gewesen, bekennt er.

Denn seinerzeit wurde entschieden, wer wofür zuständig ist. Die Müllentsorgung beispielsweise, die bis dato Sache eines Volkseigenen Betriebes gewesen war, ging nun in den Zuständigkeitsbereich des Kreises über. "Gleiches galt für Schulstandorte, Pflegeheime, Krankenhäuser. Eine ziemliche Sisyphusarbeit, weil wir uns in vielen Fragen mit den Städten abstimmen mussten", so Jeziorsky. Der 64-Jährige ist im Rückblick davon überzeugt, dass sich der Aufwand gelohnt hat. Die Wiedervereinigung habe auch gelingen können, weil es das Engagement auf der kommunalen Ebene gegeben habe - "das war der grundlegende Unterschied zu den Verhältnissen in der DDR" sagt Klaus Jeziorsky.

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Anna-Maria Meussling:

"Sehr genau" kann sich Anna-Maria Meussling aus Plötzky an die Zeit vor 25 Jahren erinnern. Das mag daran liegen, dass sie von den Kandidaten für den ersten Schönebecker Kreistag die meisten Stimmen holte, aber wohl auch daran, dass die Menschen vor dem Nichts und zugleich vor dem Alles standen: Nichts war mehr so, wie es war. Alles war neu zu überlegen, zu ordnen. "Wir hatten ja erstmal gar keine Gesetze", erinnert Anna-Maria Meussling. Damals war sie in die CDU eingetreten. Die gewählten christdemokratischen Kreistagsmitglieder hätten sich allesamt wunderbar verstanden, hätten die Sitzungen stets mit einem Gebet begonnen, weil durch die Bank alle Christen waren, versichert die Restauratorin. "Wir sind sehr offen miteinander umgegangen", sagt sie zufrieden. Übrigens: Der damalige Fraktionschef Martin Patzelt brachte es später sogar zum Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder. Schon schwieriger und diskussionsintensiver sei die Arbeit im Gemeinderat gewesen. Und kann sie auch zufrieden zurückblicken hinsichtlich dessen, was damals erreicht werden konnte? "Ja. Sehr zufrieden. Das war eine entscheidende Phase. Ich denke, dass es gut war, wie wir, alles Laien, es gemacht haben.

Wir mussten ja in unsere Aufgabe erst hinein wachsen." Oft genug sei über strittige Themen lange diskutiert worden. "Noch heute gibt es Freundschaften aus jener Zeit", freut sich Anna-Maria Meussling über einen Nachhall der menschlichen Art. Noch weitere zwei Male hat sie sich zur Wahl gestellt, stets erfolgreich. 2003 verließ sie das Gremium Kreistag. "Es sollten Jüngere ran", begründet sie den Rückzug aus der Lokalpolitik. Anna-Maria Meussling erhielt 1993 das Bundesverdienstkreuz am Bande, verliehen von Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Im Jahr 2012 schüttelte ihr der nächste Bundespräsident die Hand: Joachim Gauck überreichte das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

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Karl-Joachim Blume:

Diplom-Landwirt Karl-Joachim Blume (69) war zur Wende Mitglied der Demokratischen Bauernpartei (DBD), für die er auch in der Volkskammer saß. Später versuchte sich die Partei als "ökologische Bauernpartei" neu zu profilieren, erhielt aber bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 nur 2,2 Prozent der Stimmen. Auch in den Bezirken sah es nicht gut aus.

Das beste Wahlergebnis wurde in Neubrandenburg 6,3 Prozent erreicht. Daraufhin entschied sich der DBD-Parteivorstand im Juni 1990 für eine Fusion mit der CDU. So wurde auch der Barbyer Landwirt Christdemokrat, der neben seiner Kreistagstätigkeit bis vor einem Jahr für diese Partei im Barbyer Stadtrat saß.

Kreistagssitzung im "Kreml"

"Mir ging es im Kreistag vor allem darum, die sozialistische Landwirtschaft in marktfähige Strukturen zu überführen", erinnert sich Blume. Vor allem wollte er kein Nachfolgebetrieb einer LPG sein, was nicht ohne Auseinandersetzungen alter LPG-Mitglieder verlief.

Zur Wende zählte die Barbyer LPG rund 600 Mitglieder, von denen etwa 100 aktiv waren. "Die ersten Kreistagssitzungen fanden im `Kreml` statt", erinnert sich Blume. So wurde das Kreiskulturhaus am Schönebecker Bahnbrückental genannt. Laut Blume hatten damals Sachthemen absolute Priorität. Parteipolitische Profilierungskämpfe habe es erst später gegeben. Während Joachim Blume die Entwicklung der Landwirtschaft als gelungen ansieht, ist er von den Auswirkungen des im Einigungsvertrags 1990 festgeschriebenen Bundesberggesetzes enttäuscht. Auf Betreiben von Rohstoffunternehmen der Altbundesländer sei mit dem Einigungsvertrag 1990 nicht DDR-Unrecht aufgehoben, sondern zementiert worden. So könne zukünftig auf rund 90 Prozent des Territoriums der ehemaligen Verwaltungsgemeinschaft Barby Kiesabbau stattfinden.

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Gottfried Menzel:

"In der Wendezeit waren wir schon jeden Donnerstag auf der Straße zum Demonstrieren", blickt Gottfried Menzel auf eine bewegende Zeit zurück. "Wir wollten etwas bewegen", sagt er. Deshalb sei es für ihn kein schwerer Schritt gewesen, sich für die erste Kommunalwahl aufstellen zu lassen. "In der CDU war ich bereits zu DDR-Zeiten Mitglied", sagt er. Außerdem hatte der damals 53-Jährige plötzlich viel Zeit. "Ich war 35 Jahre lang im Sprengstoffwerk Schönebeck beschäftigt", sagt er. Doch dann kam von heute auf morgen für ihn der Zeitpunkt, an dem er in Altersteilzeit gehen sollte. Er wollte nicht, er musste. Statt zuhause zu bleiben, hat sich Gottfried Menzel also für die Christdemokraten um ein Kreistagsmandat beworben - und es auch direkt geschafft. "Wir alle wollten uns dafür einsetzen, dass Änderungen möglich sind", sagt er. Die Kreistagssitzungen fanden in der Kreisverwaltung im Cokturhof statt. "Eine wichtige Entscheidung ist damals gewesen, dass die Reha-Klinik nach Schönebeck kommt", erinnert sich der heute 78-Jährige. Zwei Wahlperioden lang engagierte sich der Schönebecker im Kreistag.

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Helga Hübner:

Als vor 25 Jahren der erste Kreistag des damaligen Kreises Schönebeck gewählt wurde, war auch Helga Hübner mit dabei. Sie kam für die Christlich-Demokratische Union (CDU) in das Kommunalparlament. Dort hat sie vor allem in der Gesundheits- und Kulturpolitik ihren Platz gefunden. "Aber die Reisefreiheit hatten wir alle als politisches Thema im Kopf", erinnert sie sich. Die gelernte Medizinisch-Technische Assistentin arbeitete lange Jahre für die Etablierung der Kammerphilharmonie in Schönebeck und im Kreis. "Dafür habe ich mich zusammen mit Frau Meussling eingesetzt", erinnert sie sich und verweist auf die Frau des früheren Pretziener Pastoren Rüdiger Meussling. Sie ist ebenfalls auf dieser Seite zu sehen. Neben der Gesundheit und der Kultur hat sie sich auch für die Zuwendung Schönebecks in Richtung Magdeburg stark gemacht. "Diese beiden Städte gehören einfach zusammen", sagt sie. Während die Mitteldeutsche Kammerphilharmonie inzwischen zu einer Institution geworden ist, hat die Annäherung der einen Elbestadt an die andere etwas weiter im Norden nicht funktioniert. "Es wollte nicht gelingen", seufzt sie.

Zahlreiche Unterschriftenaktionen - auch zusammen mit ihrem Mann Gottfried Hübner, der Vorsitzender des Stadtrates Schönebeck war - haben schlussendlich nicht zum erhofften Ziel geführt. Auch, weil die Partei bei dieser Problematik nicht immer hinter den Hübners stand. Nun zieht es Schönebeck mehr in Richtung Staßfurt und gen Süden denn gen Landeshauptstadt. "Im Großen und Ganzen war die Entscheidung aber in Ordnung", sagt Helga Hübner mit Blick auf die Zeit nach der Wende. "Immerhin haben wir das Wunder der Einheit miterlebt", fügt sie hinzu. "Wer hätte damals gedacht, dass es so friedlich gelingen würde."