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Angeregte Debatte beim SPD-Bürgergespräch in Wernigerode / Arbeitsmarkt im Aufwind: Aber die Realität sieht anders aus

Von Regina Urbat 19.11.2010, 05:18

Der Arbeitsmarkt ist im Aufschwung. Die Realität sieht anders aus. In dem Bürgergespräch des SPD-Landesverbandes zur Arbeitsmarktpolitik in Wernigerode wurde auf zahlreiche Probleme hingewiesen und Kritik geübt. Vor allem zu Leiharbeit, Lohnpolitik und fehlenden Perspektiven für junge wie ältere Arbeitnehmer.

Wernigerode. Angeregt wurde am Mittwochabend über die Arbeitsmarktpolitik in Wernigerode diskutiert. "Ein Thema mit sehr vielen Facetten", sagte Katrin Budde zum Auftakt des Bürgergesprächs im Altwernigeröder Apparthotel, zu dem der SPD-Landesverband eingeladen hatte.

Die Landesvorsitzende der Sozialdemokraten moderierte die Veranstaltung und übermittelte zuerst die "schlechte Nachricht". Die Ankündigung "Bullerjahn kommt" hätte heißen müssen "kommt nicht". Die Begründung: Der SPD-Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 20. März musste zur gleichen Zeit an der Tagung des Landes-Finanzausschusses in Magdeburg teilnehmen.

Als Gesprächspartner im Podium standen Katrin Budde somit Kirsten Fichtner, Geschäftsführerin der Gebäude- und Wohnungsbaugesellschaft Wernigerode (GWW), Tatjana Stoll von der IG Metall Halberstadt und Andreas Steppuhn, Vorsitzender des SPD-Gewerkschaftsrats Sachsen-Anhalt, zur Verfügung. Schwerpunkt der Diskussion, an der sich viele der rund 60 Anwesenden beteiligten, waren Lohnpolitik, Leiharbeit, Fachkräftemangel und Soziale Bürgerarbeit.

Obwohl die Arbeitslosigkeit überall gesunken und im Harzkreis mit 10 Prozent bzw. knapp 12 000 Arbeitslosen so niedrig wie seit Oktober 1990 nicht mehr gewesen sei, "sieht die Realität anders aus", sagte Siegfried Siegel. Der Landtagskandidat für den Wahlkreis Wernigerode/Oberharz hielt der "stolzen Bilanz" Lohndumping, die immer noch hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen und den Missbrauch von Leiharbeit entgegen.

<6>Die unmittelbaren Auswirkungen bekomme beispielsweise Kirsten Fichtner zu spüren. 3200 Wohnungen habe die GWW in ihrem Bestand, 10 bis 12 Prozent Leerstand im Jahr durch Fluktuation. Bei Einzug werde auf freiwilliger Basis die Einkommenssituation erfasst. Für sie erschreckend: "Nur 37 Prozent der Befragten haben Arbeit, die meisten Leiharbeit." Davon 64 Prozent einen Job mit einem Nettoverdienst unter 1500 Euro. "Davon kann eine Familie nicht leben." Bei ihren regelmäßigen Besuchen von Mietern erfahre sie zunehmend mehr über Armut. Und: "Am schlimmsten betroffen sind die Kinder."

<7>Die Realität sieht anders aus, meinte auch Tatjana Stoll, denn 826 000 Menschen in Deutschland sind gegenwärtig über Leiharbeit beschäftigt. Die Gewerkschafterin: "Das sind 35 Prozent mehr als 2009." Und: "Jeder 8. Leiharbeiter braucht Transferleistungen wie z. B. Wohngeld." Die Forderung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, "können nicht immer nur die Gewerkschaften auf dem Schirm haben". Deshalb erwarte Tatjana Stoll von den Parteien und der künftigen Regierung, "die Leiharbeit einzugrenzen und neu zu regeln". Olaf Bardy, 1995 aus Nordrhein-Westfalen nach Veckenstedt gezogen, erinnerte an den Ursprung der Leiharbeit: "Eine Beschäftigungsform, um Lücken in Produktionsbetrieben flexibel schließen zu können. Sie war damals gut bis besser bezahlt." Weit entfernt sei man heute davon. Auch er forderte gleichen Lohn für gleiche Arbeit.

<8>Praktiziert werde das zum Beispiel in der Ilsenburger Groblech GmbH. "Von den 820 Beschäftigten bekommen alle gleichen Lohn bei gleicher Arbeit", so Ulrich Förster. Der Betriebsratsvorsitzende zeigte auch zum Problem Fachkräftemangel auf, wie es besser geht. Das Walzwerk bilde jährlich 16 Facharbeiter aus, "die alle übernommen werden".

Die Realität sieht aber anders aus. Andreas Steppuhn kritisierte, dass viel zu viele junge Leute wegen fehlender Perspektiven und schlecht bezahlter Arbeit Sachsen-Anhalt verlassen. "Österreich und die Schweiz sind voll mit gut ausgebildeten Facharbeitern aus Ostdeutschland." Deshalb fordere der Gewerkschafter flächendeckende Mindestlöhne.

Auch ältere Arbeitnehmer brauchen Perspektiven, meldete sich Jürgen Bauer zu Wort. Der 53-jährige arbeitslose Chemieingenieur habe 2009 "blauäugig seinen gut bezahlten Job in Niedersachsen aufgegeben" und weder in Wernigerode noch Umgebung eine Chance, im gleichen Lohnniveau wieder eine Festanstellung zu finden. Er wollte nicht bedauert werden, vielmehr wissen, welchen Einfluss die Politik überhaupt auf die "miserable Arbeitsmarktpolitik" habe. Bei der Diskussion wie Rente mit 67 "kriege ich eine Riesenwut".

Kritisch auch die Anmerkungen von Dirk Michelmann und Michael Lütje, Leiter und leitender Mitarbeiter bei der Kommunalen Beschäftigungsagentur. Sie forderten mehr Ehrlichkeit bei der Diskussion um Tarife und "sinnvolle Bürgerarbeit". Michelmann: "Welche Tätigkeiten sind das?" Lütje: "Es ist ungerecht, Bürgerarbeit bei 6,92 Euro die Stunde anzusetzen, solange die Friseurin noch 3,20 Euro bekommt." Es sollten, jene, die arbeiten und Steuern zahlen, Mindestlohn erhalten.

Evelin Malek nutzte das Bürgergespräch, um sich bei ihrer Chefin Kisten Fichtner zu bedanken. Das Unternehmen zahle Tarif, biete familienfreundliche Arbeitsbedingungen, es bilde aus und halte die jungen Leute in der Region. Wie wichtig und richtig das sei, zeige eindrucksvoll das Video "WerniGerode", gedreht von Jugendlichen. Ihr Appell: "Schauen Sie es sich an – das ist die Realität."