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Toleranzedikt von 1763 bewirkt Brückenschlag zwischen den Nationen Vor gut 250 Jahren lädt Katharina II. Deutsche nach Rußland ein

Von Agnes-Almuth Griesbach 17.03.2014, 01:25

Zerbst l Die "Konferenz für Aussiedlerseelsorge in der EKD" hat im November vergangenen Jahres unter dem o.g. Titel zur Abschlusstagung im Zeichen des Themenjahres der Lutherdekade "Reformation und Toleranz" nach Berlin eingeladen und mit hochkarätigen Vorträgen Aspekte der Toleranz beleuchtet. Toleranz als Versprechen einer vorausschauenden, aufgeklärten Monarchin oder Kalkül? Immanente Gefährdung der Toleranz - Religionsfreiheit und der Umgang mit Minderheiten. Und wie sieht der lebendige Brückenschlag aus - dort deutsche Spuren in Kasan und hier Russlanddeutsche in Kirche und Gesellschaft? In anregenden Diskussionen geht man auf Spurensuche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Und sehr schnell ist klar, dass man sich auf Spurensuche nach Zerbst/Anhalt begeben muss.

Kolonisten für Russland

Blick zurück: Am 5. Januar 1762 stirbt Zarin Elisabeth und ihr Neffe Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf folgt ihr als Zar Peter III. in der Thronfolge nach. Die Palastrevolution, Gefangennahme und Ermordung des Zaren im Juli 1762 setzt seinen begonnenen Reformen ein Ende. Noch im Oktober des gleichen Jahres wird die Anhalt-Zerbster Prinzessin Sophie Auguste Friederike zur russischen Zarin Katharina II. gekrönt, die in ihrer 34-jährigen Regierungszeit das russische Reich für Europa öffnet. Sie stößt vielfältige Reformen an, kann sie aber nicht immer gegen den Widerstand des Adels durchsetzen: Innenpolitisch strebt sie die Vereinheitlichung von Verwaltung und Behörden an, gründet Schulen und Krankenhäuser, gibt dem einheimischen Handel, Schifffahrt und Landwirtschaft neue Impulse und holt mit ihrem Einladungsmanifest vom 22. Juli 1763 "Kolonisten" ins Land. Sie gewährt ihnen Steuer- und Religionsfreiheit, stellt Siedlungsland in lokaler Selbstverwaltung zur Verfügung und sichert ihnen die Freistellung vom Militärdienst zu. Viele folgen ihrem "Lockruf", wie es der Aussiedlerbeauftragte Pfr. Edgar Born der Evangelischen Kirche von Westfalen beschrieben hat. Auch wenn die ersten Jahre sehr schwer sind, entstehen doch im Gebiet um Saratow über 100 Dörfer und Tochterkolonien.

Katharina II. ist nicht die Einzige, die eine aktive "Peuplierungspolitik" betrieben hat. So hat zum Beispiel auch der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg mit dem Edikt von Potsdam (1685) die aus Frankreich vertriebenen evangelischen Hugenotten mit großzügigen Privilegien eingeladen, um sein von den Folgen des 30-jährigen Krieges verwüstetes Land wieder aufzubauen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird der privilegierte Status der "Kolonisten" in ihrer neuen Heimat immer mehr zurückgedrängt: Sie werden zum Militärdienst verpflichtet, was für die ausgewanderten Mennoniten, die sich zur christlichen Gewaltfreiheit bekennen, zu Gewissenskonflikten führt. Die russische Sprache wird als Amtssprache eingeführt. Die Aufhebung der Leibeigenschaft birgt sozialen Konfliktstoff, da sich besitz- und landlose russische Bauern oft als Tagelöhner verdingen müssen. Antideutsche Stimmungen entstehen und viele so genannte Russlanddeutsche wandern nach Amerika aus. Die Gegensätze im stalinistischen Russland verschärfen sich, die Zerstörung der eigenständig gebliebenen deutschen Kultur und Deportationen nach Sibirien sind die Folge. In den 60er Jahren des 20. Jh. werden sie von der Sowjetunion, wenn auch nicht öffentlich, rehabilitiert.

Seit 1953 gesetzlich verbrieft

Ein umfangreicher Forschungsbericht "(Spät-)Aussiedler in Deutschland" wurde im Dezember 2013 anlässlich des am 19. Mai 1953 in Kraft getretenen Bundesvertriebenengesetzes (Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge/BVFG) vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) veröffentlicht. "Die nach wie vor wichtigste gesetzliche Grundlage der (Spät-)Aussiedlerzuwanderung, [...] ist dementsprechend auch ausdrücklich kein Instrument zur Steuerung der Zuwanderung [...], sondern nach wie vor ein Instrument zur Kriegsfolgenbewältigung". (s. dort S. 18)

Skizziert wird in diesem Forschungsbericht die Lebenssituation der seit 1950 nach Deutschland gekommenen ca. 4,5 Mio. (Spät-)Aussiedler, die sich vor allem in den Bundesländern Bayern (16%), Baden-Württemberg (19%), Niedersachsen (11%) und Nordrhein-Westfalen (27%) niedergelassen haben. Dies sind auch die überwiegenden Herkunftsländer der deutschen Auswanderer des 19. Jahrhunderts. In den neuen Bundesländern ohne Berlin haben 4% der (Spät-)Aussiedler ihren Wohnort gefunden.

Die Schwerpunkte des Forschungsberichtes sind vielfältig und beleuchten unter anderem Fragen nach der Bedeutung und Funktion der Herkunftssprache/Mehrsprachigkeit, gesellschaftlicher Teilhabe und Integration, aber auch den Kontext von Diskriminierung und Ethnozentrismus. Ein wesentliches Ergebnis ist die Bedeutung von Familien, Freundschaften, Ehe- und Partnerschaften, die als soziales Netzwerk unterstützen und emotional tragen. Ein weiterer Aspekt ist die Religiosität, Glaubenspraxis und die Organisation gemeindlichen Lebens. 83 Prozent der Russlanddeutschen bekennen sich zu einer christlichen Konfession.

Fazit der Studie: "Die Integration von (Spät-)Aussiedlern in Deutschland seit den 1950er Jahren kann aufgrund der vorliegenden Daten und Forschungsergebnisse insgesamt als Erfolgsgeschichte gesehen werden - wenn auch mit Unterschieden je nach Zeitpunkt der Zuwanderung, den damit verbundenen vorgefundenen Integrationsbedingungen und mit unterschiedlichen Herausforderungen für die einzelnen Generationen." (siehe dort, Seite 201)