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Albert-Schweitzer-Familienwerk betreibt im Geschwister-Scholl-Heim eine Schutzstelle Ein Rettungsanker für Kinder

Von Anja Keßler 26.08.2011, 04:43

Es sind die schlimmsten Meldungen: misshandelte oder vernachlässigte Kinder. Das Jugendamt hat bei akuter Kindeswohlgefährdung die Möglichkeit, Kinder kurzfristig aus dem elterlichen Haushalt herauszunehmen. Diese so genannte Inobhutnahme findet vorübergehend in einer Schutzstelle statt. In Zerbst wird diese im Auftrag des Landkreises vom Albert-Schweitzer-Familienwerk betrieben.

Zerbst. Sie sind vier und zehn Jahre alt, die Geschwisterkinder, die derzeit in der Schutzstelle in Zerbst leben. "Grund ist eine familiäre Problemsituation" erklärt Rainer Schnelle, Leiter des Geschwister-Scholl-Heimes in Zerbst, in dem eine der drei Schutzstellen des Landkreises untergebracht ist. Doch nicht immer liegt die Schuld allein bei den Eltern, dass ein Zusammenleben nicht mehr möglich ist. "Viele Kinder weisen heute starke Störungen auf. ADHS ist da nur ein Stichwort" erklärt Schnelle, während er die beiden Räume in der Schutzstelle zeigt.

In dem Einzel- und Doppelzimmer ist Platz für drei Kinder und Jugendliche, betreut werden ko¨nnen Null- bis 18-Jährige. "Bei Bedarf können wir auf bis zu fünf Kinder aufstocken", erinnert sich Schnelle an seinen bisher schlimmsten Fall im Jahr 2009, als das Jugendamt fünf Geschwisterkinder in Obhut nahm. "Drei Kinder waren geistig behindert und die häuslichen Bedingungen waren..." Rainer Schnelle stockt bei der Erinnerung. "So etwas habe ich noch nie gesehen", bringt er diesen Gedanken schnell zu Ende.

Seit 2008 gibt es die Schutzstelle in Zerbst. Finanziert wird die Unterbringung über ein Entgelt. Waren 2009 insgesamt 26 Kinder für 454 Tage dort untergebracht, so waren es im vergangenen Jahr 23 für 305 Tage. "Die Schutzstelle ist keine Dauerlösung. Es geht vielmehr darum, die Beteiligten – Eltern wie Kinder – aus ihrer Konfliktsituation zu holen", erklärt Schnelle. In diesem Jahr waren bereits elf Kinder in Obhut. Meist sind die Kinder für eine Woche da, manchmal auch nur einen Tag, oder, wenn es rechtliche Probleme gibt, auch länger.

Mehrfach sieht die Schutzstelle die Kinder selten. "Meist werden dauerhafte Lösungen gesucht." Trotzdem kam es vor, dass Schnelle ein wenige Monate altes Baby zweimal im Arm hielt. Das sind dann Fälle, die auch dem Einrichtungsleiter an die Nieren gehen.

Die Inobhutnahme, wie der Aufenthalt in der Schutzstelle heißt, ist der erste Rettungsanker. "Die Kinder werden bei uns emotional stabilisiert. Ein Mitarbeiter kümmert sich rund um die Uhr um die Kinder. Schule oder Kindergarten werden ausgesetzt" so Schnelle. Die Kinder werden psychologisch betreut, während das Jugendamt oder das Familiengericht mit oder ohne Eltern klärt, wie es mit den Kindern weitergeht.

Etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen wird in stationäre Pflege – also zu Pflegeeltern, in Kinderheime oder Kinderdorffamilien – vermittelt. "Ein Teil bleibt im Sozialraum und wird dann in den Einrichtungen des Geschwister-Scholl-Heimes weiterbetreut." Das "klassische" Heimkind – also die Waise – gibt es heute kaum noch. "Die meisten Kinder kommen aus zerrütteten oder überforderten Familienverhältnissen. 90 Prozent unserer Kinder haben Kontakt zu ihren Eltern", weiß Schnelle.

Und noch etwas hat sich in der offenen Jugendhilfe in den vergangenen Jahren geändert: "Die Probleme fangen früher an. Waren die Kinder in den 90er Jahren deutlich älter als zehn Jahre und haben sich oft Hilfe selbst gesucht, sind sie jetzt wesentlich jünger. Die Hinweise auf Problemlagen und Verhaltensauffälligkeiten kommen heute aus dem häuslichen Umfeld, den Kindergärten oder Kinderärzten zum Jugendamt."

Die meiste Arbeit hat die Schutzstelle oft zum Schuljahresende und zu Beginn der Schulzeit. "Während der Ferien gibt es kaum Konfliktpotenzial, weil keine Lehrer oder Hausaufgaben nerven. Wenn dann wieder Anforderungen kommen, ist auch schnell der Streit da", weiß Schnelle aus Erfahrung.