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Herrentag 1994 Himmelfahrtskrawalle waren das Ende der Unschuld

Vor 20 Jahren geht der Name Magdeburg durch die internationalen Medien:
Bei den Himmelfahrtskrawallen am 12. Mai 1994 geraten Ausländer und
Deutsche aneinander, die Polizei ist überfordert, Politiker verharmlosen
das Geschehen. Die Stadt hat daraus gelernt - ihren schlechten Ruf kann
sie bis heute nicht restlos abstreifen.

Von Andreas Stein 28.05.2014, 03:23

Magdeburg l Christi Himmelfahrt 1994 ist ein warmer, geradezu sommerlicher Tag. Genauso aufgeladen wie das Wetter ist auch die Stimmung im Deutschland der frühen 1990er Jahre. Ausländerfeindlichkeit und Verwahrlosung machen sich breit. Entsetzliche Übergriffe und Anschläge mit Toten bringen die frisch vereinte Bundesrepublik in Verruf: 1991 Hoyerswerda, 1992 Rostock-Lichtenhagen und Mölln, 1993 Solingen. Auch in Magdeburg gibt es eine wüste Neonazi-Szene. Die Polizei registriert viele rechte Übergriffe, 1992 wird auf den "Elbterrassen" der 23-jährige Punk Torsten Lamprecht erschlagen.

Für den Herrentag 1994 stellt sich die Polizei auf die üblichen Schlägereien ein, die Präsenz wird um 20 Beamte erhöht, davon viele Frauen - es ist schließlich Herrentag. Die Stadt sorgt vor und bringt 20 von Sozialarbeitern betreute Skinheads per Bus nach Loitsche in die Börde, damit sie nicht randalieren. Der Verfassungsschutz hatte am Tag zuvor den vagen Hinweis erhalten, dass Hooligans am Vormittag am Alten Markt Auseinandersetzungen mit Linken anzetteln wollten.

Lage für Polizisten unübersichtlich

Gegen 15.30 Uhr entwickelt sich, was später unter dem Begriff Himmelfahrtskrawalle bekannt sein wird: 30 angetrunkene Hooligans pöbeln auf dem heutigen Ulrichplatz (damals noch unbebaut) Ausländer an. Diese flüchten in verschiedene Richtungen, fünf Schwarzafrikaner rennen Richtung Norden auf den Breiten Weg und suchen Schutz in der Marietta-Bar gegenüber Karstadt, einem beliebten Treffpunkt für Ausländer.

Während die Afrikaner durch den Hintereingang fliehen, randalieren die Hooligans auf der Terrasse und im Lokal. Scheiben bersten, Stühle fliegen. Die Angestellten wehren sich mit Dönermessern, es gibt mehrere Verletzte. Bei der Polizei gehen die ersten Notrufe ein, doch die Lage für die vor Ort eintreffenden Beamten ist unübersichtlich.

Kurz tritt scheinbar Ruhe ein, dann stürmt ein halbes Dutzend Ausländer aus der Marietta-Bar und greift die Deutschen an. Währenddessen laufen über den Ticker der Nachrichtenagentur dpa die ersten Meldungen über bürgerkriegsartige Ausschreitungen in Magdeburg. Auch in der Stadt verbreitet sich die Kunde von den Randalen wie ein Lauffeuer, von allen Seiten strömen angetrunkene Jugendliche herbei, um "mitzumischen".

Undifferenzierte Bilder senden falsche Botschaft

Mehrere Schwerverletzte werden gefunden, immer mehr Polizeibeamte treffen ein. Gegen 16.30 Uhr stehen sich Ausländer und Deutsche in zwei Gruppen gegenüber, getrennt durch die Straßenbahngleise. Beide Seiten sind bewaffnet, provozieren und bewerfen sich. Die Polizei bildet eine trennende Kette dazwischen, am Ende sind nach Großalarm 200 Beamte im Einsatz.

Eine Stunde nach den eigentlichen Krawallen, die Lage hat sich etwas beruhigt, hält in der Nähe der Marietta-Bar zufällig der Bus mit den aus Loitsche heimkehrenden Skinheads. Sie zeigen vor den Kameras der inzwischen eingetroffenen Fernsehteams den Hitlergruß und rufen "Sieg Heil!" - Zeugen zufolge auch angestiftet von Medienvertretern. Die Skinheads steigen ohne eine Handgreiflichkeit in die Straßenbahn und verlassen das Zentrum, doch die undifferenzierten Bilder gehen durch die Abendnachrichten und die Botschaft ist da: In Magdeburg können Neonazis stundenlang wüten und Ausländer jagen, ohne dass die Polizei eingreift.

Ermittlungsverfahren gegen Polizisten

Später stellt sich als Fehler heraus, dass die Beamten keine Videoaufzeichnungen machten und die Staatsanwaltschaft erst einen Tag später informiert wird. Die Krawalle werden umgehend ein Politikum und beschäftigen sogar den Bundestag. Auch im Land brodelt es, denn am 26. Juni stehen Landtagswahlen an.

Polizeipräsident Antonius Stockmann und Innenminister Walter Remmers (CDU) geraten als Verantwortliche für die überforderte Polizei in die Schusslinie, Stockmann wird die Verharmlosung von Rechtsex-tremismus vorgeworfen. Am 10. August versetzt ihn der neue Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) in den Ruhestand. Es werden 15 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet, doch alle werden entlastet. Ein zunächst supendierter Beamter wird 1995 freigesprochen.

Eine Sonderkommission "Herrentag" ermittelt 86 mutmaßliche Täter der Krawalle. Bis 1995 werden davon acht wegen schweren Landfriedensbruchs, schwerer Körperverletzung und Widerstand gegen Vollzugsbeamte zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Sechs gehen in Berufung, sieben Verfahren werden eingestellt. Gegen Ausländer gibt es keine Verfahren.

Zerfall der DDR führt zu Identitätsbrüchen

Danach war in Magdeburg nichts mehr, wie es war. "Ich war schockiert über das Ausmaß der Gewalt - und die himmelschreiende Gleichgültigkeit der Dabeistehenden. 30 entschlossene Männer hätten dem ein Ende setzen können", erinnert sich David Begrich, Leiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein Miteinander, damals Augenzeuge.

"Die Krawalle kamen für uns Zugewanderte trotz allgemein brenzliger Stimmung überraschend", berichtet Abdoul Coulibaly, der 1987 als Student nach Magdeburg kam. Die Ursachen? Der eine Staat war nicht mehr da, der andere noch nicht ganz, sagt David Begrich. "Der Zerfall der DDR führte zu enormen Brüchen in der Identität, gerade bei vielen Jugendlichen. Außerdem gab es wenig Erfahrungen im Zusammenleben mit Menschen aus anderen Ländern. Das nutzten die Nazis für ihre Hetze", sagt Susi Möbbeck, Integrationsbeauftragte des Landes. Die Himmelfahrtskrawalle waren für Begrich kein Wende-, sondern ein Negativ-Höhepunkt, der erst im 12,9-Prozent-Wahlergebnis von 1998 für die rechtsextreme DVU gipfelte und das Land in einen Schock versetzte.

Image-Gau wirkt in Magdeburg bis heute

"Was damals passierte, ist nachvollziehbar, aber nicht entschuldbar", sagt Abdoul Coulibaly, der ab 1997 Ausländerbeauftragter der Stadt Magdeburg war. Deutschland, vor allem der Osten, hätte bei Zuwanderern nach wie vor einen schlechten Ruf. Dennoch: In Magdeburg habe sich viel getan. Verwaltung und Polizei hätten viel zerstörtes Vertrauen wieder aufgebaut. "Die Herausforderung des friedlichen und toleranten Miteinanders bleibt." Das sieht auch David Begrich so. Für ihn durchbricht die Stadt langsam den "Magdeburg-Effekt", den Image-Gau, der bis heute wirke.

Heute, sagt Susi Möbbeck, gibt es in Sachsen-Anhalt über 70 Migrantengruppen, die sich aktiv einmischen und das Land mitgestalten. Aber immer noch sei das Zusammenleben besonders im ländlichen Raum zu wenig selbstverständlich, es gebe Abwehrhaltungen in der Bevölkerung, in Behörden fehlten Sensibilität und die Kenntnis verschiedener kultureller Herkünfte. "Dass Zugewanderte in Sachsen-Anhalt gleichberechtigt leben, zur Schule gehen, arbeiten und studieren, das muss noch selbstverständlicher werden."