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Spezialpolizisten in Sachsen-Anhalt Präzisionsschützen: Der Schuss als letzte Rettung

Sie stehen nie im Licht der Öffentlichkeit, kaum einer nimmt sie wahr.
Etwa 15 Präzisionsschützen bereiten sich täglich in Sachsen-Anhalt auf
einen Einsatz vor, den es bisher für sie noch nicht gab und hoffentlich
nie geben wird: Der tödliche Schuss zur Rettung von Menschenleben.

Von Matthias Fricke 21.01.2015, 02:15

Magdeburg l Der 49-jährige Polizeioberkommissar trifft auf einem Dach in Berlin für den nächsten Einsatz seine Vorbereitungen. Holger B., sein richtiger Name darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden, montiert sein Präzionsgewehr. Es handelt sich um eine "Accuracy" mit aufgesetztem Zielfernrohr.

In diesem nicht gerade ungewöhnlichen Einsatz soll er mit seinen Kollegen aus Sachsen-Anhalt einen Staatsbesuch der höchsten Sicherheitsstufe absichern. In seinem Blickfeld registriert der Spezialpolizist jede ungewöhnliche Bewegung, jeden abgestellten Rucksack und jede Fensterscheibe. Bei sehr vielen Besuchen in Deutschland werden die Präzisionsschützen aus Sachsen-Anhalt angefordert.

Auf dem Dach muss Holger B. mehrere Stunden bei jedem Wetter aushalten. "Bei diesem Job arbeitet jeder von uns hochkonzentriert", erklärt der Einsatzleiter. Aus diesem Grund wechseln sich die Spezialisten entsprechend ab, um einen ganzen Tag lang durchhalten zu können.

"Nicht nur die Ausrüstung, sondern auch die gesamte Bekleidung ist eine Sonderanfertigung." - Andreas von Koß, LKA-Sprecher

Zur Ausrüstung gehören Ferngläser, Wärmebildkameras, Windmesser und andere Spezialausrüstung. Ein Teil soll besser nicht öffentlich genannt werden. Es ist ganz besonderes Equipment. "Nicht nur die Ausrüstung, sondern auch die gesamte Bekleidung ist eine Sonderanfertigung", sagt LKA-Sprecher Andreas von Koß.

Einsatzleiter Holger B.: "Unsere Verantwortung ist sehr hoch und dessen sind wir uns auch bewusst. In einer Situation wie einer Geiselnahme oder ähnlichen Lagen, bei der Menschen sich in unmittelbarer Lebensgefahr befinden, kommt es oft auf den Bruchteil einer Sekunde an." Der Beamte muss und kann deshalb im Notfall selbst entscheiden, wann er den Finger am Abzug krümmt. Die Spezialisten sprechen in diesem Fall von einem Initiativschuss.

"Aber auch ein Schuss auf Befehl, weil der Kollege die Situation nicht immer vollständig überblicken kann, wird bei uns trainiert", sagt der Einsatzleiter. Voraussetzung ist immer, dass es keine andere Möglichkeit mehr gibt, bedrohte Menschenleben zu retten.

Die eigentliche Herausforderung für Präzisionsschützen der Polizei sei der Schuss auf bewegliche Ziele. Im Training sind diese oft nicht größer als ein Golfball, die auf mehrere hundert Meter Entfernung anvisiert werden. Manchmal auch aus dem Hubschrauber heraus, was die Schwierigkeitsstufe zusätzlich erhöht.

Die größte Furcht, wenn man überhaupt davon sprechen kann, ist für die Männer, im entscheidenden Moment nicht richtig zu treffen. "Davon können im Ernstfall auch viele Menschenleben abhängen", sagt der Einsatzleiter.

Der Tod als letzte Rettung, dieses Konzept geht auf das Jahr 1972 nach den Olympischen Spielen in München zurück. Damals hatten acht palästinensische Terroristen elf israelische Delegationsmitglieder als Geiseln genommen. Bei einem Befreiungsversuch in Fürstenfeldbruck starben die Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist.

Der sogenannte finale Rettungsschuss erlaubt unter bestimmten Voraussetzungen die gezielte Tötung von Menschen etwa bei Geiselnahmen oder anderen Lagen, bei denen akute Lebensgefahr für andere besteht. Er ist gesetzlich geregelt.

Zum ersten Mal in Deutschland tötete das Mobile Einsatzkommando der Hamburger Polizei am 18. April 1974 den Bankräuber und Geiselnehmer Emilio Martin-Gonzales. Der aus Kolumbien stammende Student hatte in der Filiale mit einem Messer und einer Pistole bewaffnet sieben Geiseln genommen. Ein 34-jähriger Polizist wurde von ihm erschossen. Nach längeren Verhandlungen fuhr ein Polizist mit Badehose bekleidet den geforderten Fluchtwagen vor. Als der Zugriff erfolgen sollte, gaben Polizisten die Schüsse ab. Der Fall ging als erster finaler Rettungsschuss in die Polizeigeschichte ein. Der Magdeburger Holger B. arbeitet seit mehr als 25 Jahren beim Spezialeinsatzkommando in Sachsen-Anhalt und musste bisher noch keinen solcher Schüsse abgeben. Studiert hat er Maschinenbau und ist Diplom-Ingenieur und Pädagoge.

"Im Spezialeinsatzkommando ist Teamarbeit entscheidend. Jeder muss sich auf den anderen verlassen." - Chef der Präzisionsschützengruppe

Inzwischen ist der Spezialbeamte selbst Ausbilder für Präzisionsschützen im Norden Deutschlands. 200 Präzisionsschützen wurden in den vergangenen 15 Jahren unter seiner Leitung ausgebildet. In einem sogenannten Nordverbund haben sich die acht Bundesländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin für die Spezialeinsatzkräfte zusammengeschlossen. Dabei hat jedes Bundesland seinen Schwerpunkt.

Für Sachsen-Anhalt sind es seit einigen Jahren die Präzisionsschützen. Holger B. arbeitet selbst die Ausbildungsrichtlinien aus. Trainiert wird entweder auf Truppenübungsplätzen der Bundeswehr oder auf einer kleinen Insel in Mecklenburg-Vorpommern. Vor allem aus Sicherheitsgründen ist dies erforderlich.

"Im Spezialeinsatzkommando ist Teamarbeit entscheidend. Jeder muss sich auf den anderen verlassen können", sagt der Beamte. Bei den Einsätzen gibt es im Wesentlichen drei Spezialisierungsrichtungen. Zum einen die Zugangstechniker. Sie sind dafür ausgebildet, dem SEK schnell und sicher freie Bahn zu schaffen. Neben den Schützen gibt es noch die Rettungssanitäter, die ebenfalls speziell geschult sind. Die Ausbildung dauert ein halbes Jahr lang in einer zivilen Einrichtung.

Andreas von Koß: "Das psychologische Anforderungsprofil an die Präzisionsschützen ist besonders hoch. Sie müssen stressresistent, ausgeglichen, geduldig und intelligent sein." Aus diesem Grund wird bei jedem Einsatzbeginn auch die entscheidende Frage durch den Einsatzleiter persönlich gestellt: Bis du bereit?

Für den Fall einer Schussabgabe mit Verletzten oder Toten gilt für alle Polizisten im Land: Ermittlungen erfolgen immer durch andere Dienststellen, um die Objektivität zu gewährleisten. Grundsätzlich wird ein Kriseninterventionsteam eingeschaltet, innerhalb der ersten 24 Stunden muss ein Polizeiarzt eingeschaltet sein. Eine psychologische Betreuung wird angeboten.