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Bischof Gerhard Feige Keine Angst mehr vor Tabus

Zusammenhalten, sich abschotten: Diese Strategie der DDR-Katholiken
prägte auch Gerhard Feige. Jetzt aber drängt er die Gemeinden zur
Offenheit. Und wagt auch selbst offene Worte.

Von Hagen Eichler 16.04.2015, 03:22

Magdeburg l In Rom haben sie sich an diesen seltsamen Geistlichen bis heute nicht gewöhnt. Ein kleiner Mann mit Kassenbrille und Wallebart - kann das ein deutscher Bischof sein? Für einen bettelarmen Kapuzinermönch wird Gerhard Feige gelegentlich gehalten oder für einen Missionar aus dem afrikanischen Busch.

Doch Feige ist tatsächlich Bischof. Seit genau zehn Jahren Chef des Bistums Magdeburg, das Sachsen-Anhalt umfasst sowie kleine Teile von Sachsen und Brandenburg. Nicht nur äußerlich hebt er sich im Kreise seiner deutschen Amtsbrüder ab: Er ist in der DDR aufgewachsen (das gilt nur für drei der 25 deutschen Oberhirten). Er vertritt die katholische Kirche im Kernland der Reformation. Er hat eine große Nähe zur orthodoxen Kirche und darf mit einer Sondergenehmigung Gottesdienste auch im byzantinischen Ritus feiern.

Und in seinem Magdeburger Wohnviertel kennen ihn die Nachbarn als den schwarzgekleideten Herren, der den Hund ausführt. Nicht seinen - den seiner Haushälterin.

Feige macht das gern. Ein pompöser Auftritt, wie ihn mancher Kirchenfürst pflegt, liegt ihm fern. Die traditionelle Anrede "Exzellenz" verstört ihn, privat fährt er einen VW Golf. Während mancher Amtsbruder im Rokoko-Palais residiert, bewohnt Feige eine Drei-Zimmer-Wohnung.

Wittert Feige Heuchelei, legt er sich auch mit mächtigen Kollegen an.

Hochfahrendes Auftreten war dem Katholizismus in der DDR fremd. Vom atheistischen Staat eingeengt und misstrauisch überwacht, rückte man eng zusammen. In diesem Milieu ist Feige großgeworden, es prägt ihn bis heute. Familiär ging es zu in den kleinen katholischen Gemeinden. Offene Debatten waren nicht erwünscht, um dem Staat keinen Angriffspunkt zu bieten. "Das Motto war: Was man nicht sagen muss, muss man nicht sagen", erinnert sich Feige.

Lange noch hat er an dieser Vorsicht festgehalten. Doch das ist vorbei. "Was ich kritisch sehe, das sage ich auch deutlich. Ich sehe mich nicht als Funktionär, der nur von oben nach unten durchstellt."

Das hat die Kirchenhierarchie mittlerweile gemerkt.

Im März 2013 etwa fordert Feige von seinen Priestern mehr Barmherzigkeit gegenüber allen Menschen, deren Leben nicht dem katholischen Ideal entspricht. Im September wird er noch deutlicher: Die Kirche dürfe unverheiratete Paare und Homosexuelle nicht diskriminieren, "vor allem dann, wenn sie füreinander einstehen und sich gegenseitig unterstützen".

Wenn er Heuchelei wittert, legt er sich auch mit dem einflussreichen Erzbischof von Köln an. Im vergangenen Sommer fragt Feige öffentlich, warum Rainer Maria Woelki für den Bischofssessel im Rheinland seinen bisherigen Posten in Berlin nach nur drei Jahren verlässt. Offensichtlich, stichelt Feige, sei die Hauptstadt für die katholische Kirche "doch nicht so bedeutungsvoll, wie erst jüngst wieder betont wurde."

2009 rügt Feige gar eine Entscheidung des Papstes. Benedikt XVI. hatte vier reaktionäre Bischöfe in die Kirche zurückgeholt, darunter den Holocaust-Leugner Richard Williamson. Ein "fataler" Schritt, klagt der Magdeburger Bischof und konstatiert einen Glaubwürdigkeitsverlust für die katholische Kirche.

Eigenständige Positionen kann Feige beziehen, weil er wie kaum ein anderer die Vergangenheit kennt. Vor seiner Berufung nach Magdeburg war er in Erfurt Professor für Alte Kirchengeschichte. Als solcher spürt er den Atem von 2000 Jahren Christentum und weiß, dass die Kirche nicht immer so aussah wie heute.

Beispiel Zölibat: Heute müssen Priester ehelos leben - einst war das anders. Bei den unierten Ostkirchen akzeptiert der Vatikan verheiratete Priester sogar noch heute. Schlussfolgerung? "Der Zölibat hat einen Wert. Aber er muss nicht in dieser Absolutheit sein." Dass er für solche Tabubrüche angefeindet wird, erstaunt den Theologen - er hat ja die historischen Argumente auf seiner Seite. Als Liberaler will er dennoch nicht gelten, das sind für ihn überflüssige Etiketten.

1978 tritt der Jungpriester Feige in Salzwedel seine erste Stelle an. "Ein hochgeistiger Mensch, aber trotzdem bodenständig", erinnert sich Thomas Hille, damals in einer Jugendgruppe aktiv. Feige begleitet diese Gruppe in die Ferien nach Mecklenburg und zum Arbeitseinsatz ins katholische Kinderheim Calbe. Seine Predigten trägt er damals frei vor. "Das kann er sich heute nicht mehr erlauben, bei einem Bischof wird ja jedes Wort auf die Goldwaage gelegt", vermutet Hilles Frau Roswitha, auch sie einst Mitglied der Salzwedeler Jugendgruppe.

Sonntags fährt der junge Vikar über die Dörfer. Die Messe feiert er dreimal hintereinander, auch kleine Außenposten der Kirche bekommen einen eigenen Gottesdienst. Das hält Feige heute für einen Fehler. "Es wäre sicher besser gewesen, die Leute zusammenzuführen, statt Gruppen von drei bis fünf Menschen mit einem Gottesdienst zu versorgen."

Feige legt Gemeinden zusammen - doch noch immer fehlen Priester.

Heute bleibt der Kirche ohnehin nichts anderes übrig. Die Priester fehlen, das Geld auch. Dabei hat Feige die Strukturen bereits umgekrempelt: Statt der früheren 180 Seelsorgeeinheiten gibt es heute 44. Und dennoch reicht es nicht. Die zum Bistum Magdeburg gehörende Pfarrei Bad Liebenwerda (Brandenburg) muss ohne eigenen Pfarrer auskommen. Im Januar hat Feige eine Gruppe von fünf Freiwilligen mit der Leitung beauftragt. Einfache Gläubige ohne Priesterweihe leiten jetzt Gottesdienste, wenngleich ohne Abendmahl: Für die katholische Kirche in Deutschland ist das eine Revolution. Feige geht an die Grenze dessen, was das Kirchenrecht noch zulässt. "Aufgrund unserer besonderen Situation können wir das verantworten", sagt er.

Einen "lebenspraktischen Wissenschaftler" nennt die evangelische Landesbischöfin Ilse Junkermann ihren katholischen Kollegen. "Er klagt nicht, sondern sucht mit Beharrlichkeit nach Lösungen." Feige verkörpere eine besondere Spannung zwischen Leidenschaft und Nüchternheit.

Zur Nüchternheit gehört, nicht dem Gestern nachzutrauern. Feige drängt die Gemeinden, sich zu öffnen, auf Menschen zuzugehen. Bei einem Besuch in Gardelegen etwa hat er festgestellt, dass 20 Prozent der Gemeindemitglieder Polen sind. Die Pfarrei selbst hat das bislang kaum wahrgenommen, sie richtet ihr Angebot wie eh und je an die alten Mitglieder. "Die Mentalität ist oft noch sehr von der Vergangenheit geprägt", bedauert der Bischof.

Bei allen Konflikten: Feige fühlt sich wohl in seinem Amt. An seinem früheren Leben als Gelehrter vermisst er vor allem eines: Zeit zum Lesen. Ab und zu verschafft er sich eine Auszeit. "Dann büxe ich aus und arbeite an einem Artikel. Das muss fundiert sein, dafür brauche ich einige Tage." Dass ein weltweit anerkannter Ökumene-Experte an der Spitze des Bistums stehe, sagt Ministerpräsident Reiner Haseloff, sei ein Glücksfall für das Land. Denn im Land der Reformation könnten die Christen nur dann Gehör finden, "wenn sie möglichst mit einer Stimme sprechen".

Gänzlich unverhofft fällt dem Kirchenmann und Professor noch ein Stückchen Ruhm aus einer eher kirchenfernen Ecke zu. Ein Plattencover der Toten Hosen zeigt 2012 eine Collage aus Fotos der deutschen Nachkriegsgeschichte. Direkt neben Angela Merkel: Gerhard Feige im Bischofsornat, das Gesicht verfremdet durch eine schwarze Maske. "Ich weiß gar nicht, wie die auf mich gekommen sind", behauptet Feige, obwohl die Antwort naheliegend ist: Es ist der Bart, der ihn in den Augen der Düsseldorfer Punkrocker überzeugend exotisch macht.

Der größte Teil seiner Amtszeit steht dem 63-Jährigen noch bevor.

Die Anfänge dieser Gesichtsbehaarung hat Feige schon als Oberschüler sprießen lassen, wohl auch als Zeichen der Rebellion. Der Geist von 1968 sei eben auch ein klein wenig auch in die DDR geschwappt, sagt Feige und lächelt milde.

Sein zehnjähriges Amtsjubiläum begeht er heute als 63-Jähriger. Während andere jedoch den Ruhestand planen, hat Feige den größeren Teil seiner Amtszeit noch vor sich: Üblicherweise bieten Bischöfe ihren Rücktritt nach dem 75. Lebensjahr an. Noch viele, viele Bischofsjahre liegen bevor. Macht ihm das Angst? "Darüber denke ich nicht nach", sagt Feige. "Es wird sich sehr viel verändern. Manches noch radikaler als bisher."

Es wirkt nicht so, als hätte er davor Angst.