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Kampfmittelbeseitigungsdienst Tödliches Erbe lässt es häufiger krachen

Tausende Granaten, darunter geheime Versuchsmunition der Wehrmacht, lagern noch immer in den Bunkern des Kampfmittelbeseitigungsdienstes Sachsen-Anhalt. Das gilt auch für die Bomben der Alliierten. Zerlegen ist zu gefährlich. Sprengen bleibt letzter Ausweg.

Von Matthias Fricke 18.06.2015, 03:07

Magdeburg l André Römmer packt die formbaren Päckchen mit dem hochexplosiven Plastiksprengstoff direkt zwischen die verrosteten Granaten. An den Seiten deponiert der 46-Jährige anschließend weitere Hohlladungen. Mit diesen wird später eine Explosion gebündelt wie ein Feuerstrahl auf eine ganz bestimmte Stelle geleitet. In diesem Fall auf die 15-Zentimeter-Sprenggranaten der Wehrmacht. Davon haben die Bomben-Entschärfer Tausende Tonnen in den vergangenen Jahrzehnten vom Truppenübungsplatz Colbitz-Letzlinger Heide eingesammelt. Sie lagern seit Jahren in geheimen Bunkern des Kampfmittelbeseitigungsdienstes Sachsen-Anhalt.

Lange bevor die Sowjets auf den Platz zogen und später die Bundeswehr ihre Panzer trainieren ließ, hat Hitler in dieser Heeresversuchanstalt bei Colbitz/Letzlingen seine neue Munition getestet. Darunter besonders viele Granaten, die auch mit Raketentriebwerken nach dem Abschuss noch einmal die Geschwindigkeit der Granate erhöhen sollten. Die lebensgefährlichen Blindgänger blieben über Jahrzehnte auf dem Platz liegen. Bis sie nach der Wende geborgen wurden.

Nun, mehr als 70 Jahre später, sind sie das Problem für Römmer: "Genau das macht unsere Arbeit so gefährlich. Wir wissen nicht, wie es im Inneren einer solchen Granate aussieht. Dazu gibt es logischerweise keine Unterlagen." Ein Zerlegen solcher Versuchsmunition mit der Säge sei deshalb ausgeschlossen. Die gefährlichen Granaten müssen gesprengt werden.

Die Reihen in den unterirdischen Katakomben haben sich zwar gelichtet. Dennoch lagern dort noch 1900 Tonnen des tödlichen Erbes. "Zwischenzeitlich waren es mal 6500 Tonnen Munition, die hier unten auf die Vernichtung warteten. Jetzt wollen wir bis spätestens 2019 alles aus den Altbeständen vernichtet haben", sagt Truppführer Römmer.

"In Zukunft werden wir wahrscheinlich immer häufiger gleich vor Ort sprengen müssen." - André Römmer, Truppführer

Zusammen mit seinen Kollegen bereitet der Truppführer die nächste Sprengung vor. Vier zwei Meter tiefe Löcher graben die Bagger. Mit rund 100 Kilogramm Plastiksprengstoff, 90 Hohlladungen und 120 Zündern will Römmer darin 5,5 Tonnen Blindgänger für immer unschädlich machen.

Darunter befindet sich auch eine amerikanische 250-Kilo-Sprengbombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie haben Bauarbeiter im Juli vergangenen Jahres auf einer Baustelle im Breiten Weg in Magdeburg entdeckt. Ein Teil des Stadtzentrums musste damals evakuiert werden. Erst nachdem Römmer gemeinsam mit seinem Kollegen Torsten Kresse die verrosteten Zünder entfernen konnte, atmete eine ganze Stadt auf. "Wenn die Zünder entfernt sind, kann erst einmal nichts mehr passieren. Dennoch darf man nie den Respekt vor dieser gefährlichen Munition verlieren", so der Vater zweier Kinder.

Nun steht die Bombe nach dem Entschärfen im Juli 2014 wieder in einem Erdloch vor ihm, doch diesmal soll sie für immer unschädlich gemacht werden. Behutsam packen Römmer und seine Kollegen Granate für Granate sternförmig um die Bombe. Sie allein ist gefüllt mit 125 Kilogramm hochexplosiven TNT-Gemisch.

Der dicke Stahlmantel sorgt für die Druckwelle, die in hundert Meter Entfernung noch einen Menschen töten könnte. Die rasierklingenscharfen, mehrere hundert Grad heißen Eisenteile rasen unter bestimmten Umständen mit Hochgeschwindigkeit bis zu einen Kilometer weit. Axel Vösterling vom Technischen Polizeiamt: "Aus diesem Grund treffen wir bei den Sprengungen auch die nötige Vorsorge." Die Munition wird zwei Meter tief in die Erde gegraben. Alle außer den beteiligten Sprengmeistern müssen sich aus einem Radius von einem Kilometer entfernen. Sie zünden die Ladungen später von einem etwa 300 Meter entfernten Bunker aus.

Und das sind noch die kontrollierten Sprengungen. Römmer: "In Zukunft werden wir wahrscheinlich immer häufiger gleich vor Ort sprengen müssen. Die Jahrzehnte haben den mechanischen Aufschlagzündern immer öfter so stark zugesetzt, dass wir sie entweder nicht mehr aus dem Gewinde drehen können oder die Spannfedern durchgerostet sind."

"Wegen dieser Gefahr bleibt uns gar keine Alternative zur Sprengung." - Axel Vösterling, Technisches Polizeiamt

Noch schlimmer ist es bei sogenannten Langzeitzündern. Diese sollten nach den perfiden Plänen ihrer Erfinder nach dem Abwurf der Bomben es ermöglichen, erst ganz bis zum Boden in einer Fabrikhalle zu stürzen, um dort längere Zeit liegen zu bleiben. Erst viele Stunden später, wenn das Personal schon von einem Blindgänger ausging und die Evakuierung aufgehoben war, sollten die Bomben detonieren. Das technische Prinzip: Im Zünder zerplatzt beim Aufprall eine Aceton-Ampulle. Das Mittel zerfrisst langsam ein kleines Plättchen, das den Schlagbolzen auf Spannung hält. Es kann so zwischen 48 und 72 Stunden dauern, bis die Bombe explodiert.

"Wegen dieser Gefahr bleibt uns bei solchen Zündern zur Sprengung keine Alternative. Bei jeder Bewegung könnte die Bombe explodieren", sagt Vösterling. In Sachsen-Anhalt wurden die letzten dieser Blindgänger mit Langzeitzünder im Jahr 2014 in Bad Dürrenberg (Saalekreis) und 2007 auf der Baustelle zum Müllheizkraftwerk in Magdeburger Stadtteil Rothensee entdeckt.

Schäden sind bei solchen unumgänglichen Sprengungen vor Ort im bewohnten Gebiet oft nicht auszuschließen. "Wir können zwar die Wucht der Druckwelle nach oben und die Splitterwirkung etwas eindämmen, aber dem sind Grenzen gesetzt. Irgendwo muss der Druck der Sprengung hin. Geht er zu sehr in den Boden, sind Keller, Leitungen und die Statik von Häusern gefährdet. Das ist wie ein kleines Erdbeben", sagt Römmer.

Und in wenigen Minuten wird er wieder eines auslösen. Mit seiner Kollegin Kerstin Kramp hat der Experte inzwischen alle Löcher präpariert und die elektrischen Zünder angeschlossen. Die Bagger graben jetzt die Hinterlassenschaften aus dem Weltkrieg vorsichtig ein. Dann räumen die Arbeiter den Platz. Kramp und ihr Kollege Römmer sind allein in dem nur 300 Meter entfernten Bunker. Sie geben per Funk das Warnsignal zur bevorstehenden Sprengung. Mit der Kurbel wird der elektrische Auslöser aufgeladen. Dann zählt Römmer "vier, drei zwei, eins." Rums, eine gewaltige Staubwolke umhüllt den Platz. Ein Splitter schlägt auch am Bunker ein. Es ist die letzte Gefahr, die von den tödlichen Blindgängern ausgeht. Am Ende bleibt ein fünf Meter tiefer Krater mit zehn Metern Durchmesser zurück.