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23 Verletzte aus Hordorf in Krankenhäusern der Region versorgt / Augenzeugen berichten im Volksstimme-Gespräch: "Erst so ein merkwürdiges Vibrieren, dann hat es schon mächtig gekracht"

Von Tom Koch, Mathias Müller und Oliver Schlicht 31.01.2011, 04:35

Wernigerode/Neindorf/Halberstadt. "Nach der Bahnhofsdurchfahrt hat der Zug beschleunigt und dann plötzlich so kräftig gebremst, dass wir fast von unseren Sitzen gestürzt sind. Und dann hat es nur noch gekracht: Splitterndes Glas, berstendes Metall und überall umherfliegene Sitze…"

Die Worte sprudeln nur so aus dem Mund von Saskia Lackner. Die 21-Jährige wirkt am Sonntagnachmittag aufgekratzt, beinahe euphorisch. "Das sind die Folgen des Schocks", erklärt gestern der diensthabende Unfallchirurg am Wernigeröder Harz-Klinikum, Thomas Jülich.

Saskia Lackner und ihr gleichaltriger Freund Vitalis Schweizer haben Glück gehabt: Sie haben das Zugunglück von Hordorf überlebt. Schnittwunden im Gesicht und am Rücken, Prellungen am Oberkörper, ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma zählt der Oberarzt auf, keine lebensbedrohlichen Verletzungen.

Die Studenten haben im zweiten Wagen des HarzElbeExpresses auf ihrer Heimfahrt von Magdeburg nach Wernigerode gesessen. Als er im Zug mit seinem Telefon im Internet surft, will sie ihn "auf dieses merkwürdige Vibrieren" aufmerksam machen – da hat es schon mächtig gekracht.

Unter den Reisenden im gut gefüllten Zug bricht Panik aus, beschreibt Vitalis Schweizer die ersten Minuten nach dem Unfall: "Der Zug liegt auf der Seite, es ist so furchtbar dunkel und es riecht nach Benzin. Alle wollen nur eines: hinaus. Wir hatten einfach nur Angst, dass der Zug explodiert."

Doch wo ist der Ausweg? Die Türen lassen sich nicht öffnen, es gelingt auch nicht, die Scheiben einzuschlagen, erinnert sich Saskia Lackner. "Ich habe schnell bemerkt, dass mir nichts weh tut. Auf allen Vieren habe ich im Zug nach meiner Tasche gesucht. Ich wollte mit meinem Handy Hilfe rufen." Durch Glasscherben und Blutlachen kriechend findet die Frau ihr Telefon. Schwerer verletzte Fahrgäste bitten sie stöhnend um Hilfe, zwei Frauen auf Portugiesisch und ein älterer Türke. "Aber ich habe nichts für sie tun können", beschreibt sie ihre Hilflosigkeit.

Nach einer gefühlten halben Stunde, so Vitalis Schweizer im Volksstimme-Gespräch, sind die ersten Feuerwehrleute am Unglücksort: "Jetzt weiß ich, dass uns viel schneller geholfen wurde. Aber in der Not werden aus Sekunden leicht Minuten …"

Scheiben werden eingeschlagen, Leitern durchgereicht, Saskia Lackner und Vitalis Schweizer können aus dem Zug klettern. Sanitäter kümmern sich um sie, ein Feuerwehrmann reicht Decken. Um 1.14 Uhr fährt ein Rettungswagen mit den beiden vor dem Harz-Klinkum Wernigerode vor.

Insgesamt 23 unterschiedlich schwer verletzte Passagiere sind noch in der Unglücksnacht in mehreren Krankenhäusern der Region versorgt worden. Vier Verletzte wurden im nahe gelegenen Medigreif-Bördekrankenhaus Neindorf behandelt. Zwei Frauen konnten nach ambulanter Behandlung gestern früh entlassen werden, informierte der Ärztliche Leiter Dr. Ulf Schippan.

Die beiden anderen, Vater und Sohn aus Quedlinburg, die mit dem Zug nach einem Fußballspiel in Magdeburg auf dem Weg nach Hause, liegen mit leichteren Verletzungen auf der Chirurgischen Abteilung. Sie haben Gehirnerschütterungen, Prellungen und Schnittwunden davongetragen, können in den nächsten Tagen entlassen werden.

Im Krankengespräch mit Ministerpräsident Wolfgang Böhmer berichtet der Vater, dass beide nach dem Aufprall nicht bewusstlos gewesen waren und sich selbst befreien konnten.

Im Magdeburger Universitätsklinikum wurden nach Klinikangaben eine ältere leicht verletzte, aber stark traumatisierte Frau und ein junger Mann mit kompliziertem Bruch eingeliefert. Im Halberstädter Ameos-Klinikum haben die Ärzte und Schwestern acht Patienten zu versorgen. Ein Mann, drei Frauen und ein Mädchen sind schwer verletzt – auf der Intensivstation müssen sie beatmet werden, sind nicht bei Bewusstsein.

Prof. Klaus Begall beschreibt den Zustand einer Frau als lebensgefährlich. Drei Personen müssen nur noch ambulant behandelt werden. Dass unter seinen Patienten auch Ausländer sind, darüber informiert der Ärztliche Direktor, will aber mit Hinweis auf seine Schweigepflicht keine weiteren persönlichen Auskünfte geben.

Das Harz-Klinikum betreut sechs Opfer des Zugunglücks, die Krankenhausseelsorgerin spricht mit allen. Nach Auskunft des Diensthabenden Unfallchirurgen Thomas Jülich sind alle Patienten nur leicht verletzt, fünf konnten gestern bereits die Klinik verlassen.