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Clausewitz-Sekundarschule ist in Sachsen-Anhalt der Vorreiter für gemeinsamen Unterricht Von Martin Rieß 13 von 23: In Burg lernen Förderschüler in einer ganz "normalen" Klasse - wie geht das?

19.10.2011, 04:24

Die Burger Clausewitz-Sekundarschule ist eine große Baustelle. Nicht allein, dass die Schule derzeit modernisiert wird. Dort lernen Kinder mit Förderbedarf wie selbstverständlich mit anderen Schülern zusammen.

13 der 23 Schüler, die in der Klasse 8 b der Carl-von-Clausewitz-Sekundarschule in Burg lernen, sind Förderschüler. Mehr als die Hälfte. Kann so etwas funktionieren? Immerhin war eine solche Konstellation bis vor wenigen Jahren undenkbar. 328 Schüler lernen an der Burger Schule, 32 von ihnen bekommen eine spezielle Förderung.

Es klingelt zur zweiten Unterrichtsstunde. Im Klassenraum hängt eine große Karte: Auf mehreren Quadratmetern spannt sich hier Asien vom Bosporus bis in den Fernen Osten, von Indonesien bis zur Inselgruppe Sewernaja Semlja im arktischen Polarmeer über die Leinwand. Die Schüler stehen auf, als sie Klassenleiterin Inken Kurdum begrüßt. Der Einstieg in den Unterricht klappt schon einmal.

Die Klasse 8b hat den höchsten Anteil an Förderschülern. Deshalb ist neben Inken Kurdum oft auch Frank Schiwek mit von der Partie. Er ist Sonderschulpädagoge, weiß genau, welche Schüler welche besondere Unterstützung benötigen. Inklusion - das ist das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne Förderbedarf. Was in anderen Ländern längst Alltag ist, hält auch an deutschen Schulen Einzug - und wird in Burg gelebt.

Schüler mit Förderbedarf hat es bei Clausewitzens schon lange gegeben. Seit vielen Jahren lernen Schulabgänger der Burger Förderschule hier nach der 9. Klasse für ihren Hauptschulabschluss. Und im Sommer 2007 kamen drei Schüler mit Förderbedarf in eine fünfte Klasse. Doch der hohe Anteil der Förderschüler in der 8b fällt doch ein wenig aus dem Rahmen. Der Grund für diese Konstellation: Im Sommer 2008 wurde im wenige Kilometer entfernten Grabow eine ganze Kooperationsklasse aufgelöst. Die Clausewitzianer haben sie in ihren Schulbetrieb aufgenommen.

"Sehr oft haben diese Mädchen und Jungen viel mehr für ihre Ergebnisse arbeiten müssen"

Frank Schiwek, Lehrer

Ein Beweis dafür, dass sich Sekundar- und Förderschüler tatsächlich als eine Klasse verstehen, ist nicht zuletzt die Klasse 8b: Als es darum ging, ob die Klassen - wie sonst üblich - in einen Hauptschul- und in einen Realschulzweig getrennt werden, haben nicht zuletzt die Eltern gefordert, dass die bisherige spezielle Mischung der Klassen beibehalten wird. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte tatsächlich das Vorhaben der Inklusion praktisch infrage gestanden. Statt getrennter Klassenzweige gibt es jetzt einzelne Stunden, die getrennt unterrichtet werden. Der Zusammenhalt ist so groß, dass einer der Schüler, Fabian Noack, bekennt: "Zusammen macht der Unterricht aber eben am meisten Spaß."

Für den gemeinsamen Unterricht interessiert sich auch Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD), hat daher neben Schulleiter Jürgen Scholz zur Hospitation Platz genommen. Natürlich in der 8b. Es geht an diesem Tag um die Besonderheiten Asiens. Klassensprecher Max Minge sucht ein wenig mit dem Zeigestock an der großen Karte, sagt: "Ah ja, da ist er!", und zeigt auf den Himalaya samt Mount Everest. In kleinen Gruppen sitzen die Jugendlichen kurze Zeit später zusammen und arbeiten die Merkmale der einzelnen Regionen aus kleinen Texten heraus. Wer hier Förderschüler ist und wer nicht - für Außenstehende ist dies kaum zu erkennen.

Dies ist bereits vor Unterrichtsbeginn während eines Gesprächs mit Lehrern, Schulleitung, Eltern und Schülern angeklungen. Frank Schiwek hat dort gesagt: "Als Lehrer an einer Förderschule war mir schon früher oft nicht klar, aus welchen Gründen Schüler zu uns geschickt wurden."

Wie zum Beweis hat sich eine Schülerin mit Förderbedarf zuletzt in Mathe als Überfliegerin erwiesen, die beste Arbeit geschrieben und mit einem erweiterten Realschulabschluss die Schule verlassen. Auf der anderen Seite sei er in den vergangenen Jahren auch auf andere Fälle getroffen: Schüler, die die Sekundarschule besuchen und Förderbedarf haben, bislang aber keine Hilfe bekamen, berichtet Schiwek. Der Vorteil vom gemeinsamen Unterricht sei, dass er sich auch in solchen, bislang unentdeckten Fällen um eine Förderung kümmern könne.

Bevor es mit dem gemeinsamen Unterricht losgehen konnte, waren die heutigen Erfolge keineswegs sicher. Es hat kontroverse Diskussionen an der Clausewitzschule gegeben. Uschi Baumann ist Personalvertreterin und erinnert sich: "Keiner von uns hatte ja eine sonderpädagogische Ausbildung. Mancher hatten die Sorge, dass wir diese mit der Inklusion verbundene Arbeit nicht bewältigen könnten." Am Ende entschied eine demokratische Abstimmung. Und prompt folgte - die Arbeit. Gemeinsam mit den Sonderschulpädagogen wurde überlegt, wie der Unterricht gestaltet werden kann. Sonderschichten für Unterrichtsvorbereitung waren angesagt.

Inzwischen aber ist Routine eingekehrt, und die gemeinsam unterrichtenden Lehrer verständigen sich oft unkompliziert in einer Pause vor Unterrichtsbeginn. "Und die neuen Schüler sind uns ans Herz gewachsen", sagt Uschi Baumann.

Während des Gesprächs vor der Erdkundestunde erfährt Dorgerloh zudem, dass an der Schule nicht allein Schüler lernen, die sonst an einer Schule für Lernbehinderte unterrichtet würden und die - wie zu dieser Gelegenheit Eltern berichten - nur zu oft stigmatisiert werden. Es gibt ebenso Schüler, deren Förderschwerpunkte die emotional soziale Entwicklung, die Sprache, das Sehen oder das Hören sind.

Bei aller Freude über den gelungenen gemeinsamen Unterricht gibt es aber auch offene Fragen. Klar, dass diese bei der Gelegenheit mit angesprochen werden. So fordert der Schulleiter Kontinuität: "Die Sonderschulpädagogen sind auch nach mehreren Schuljahren nur an unsere Schule abgeordnet." Das kann bedeuten, dass sie kurzfristig abgezogen werden - und dass die mühsame Arbeit, das Vertrauen der Schüler zu gewinnen, aufs Neue beginnen müsste.

"Für uns ist es vollkommen normal, dass wir eine gemeinsame Klasse sind"

Max Minge, Schüler

Frank Schiwek spricht ein anderes Thema an: "Es ist für die Schüler mit Förderbedarf demotivierend, wenn in den Zeugnissen anstelle einer Note steht: nicht bewertet. Sehr oft haben diese Mädchen und Jungen nämlich viel mehr für ihre Ergebnisse arbeiten müssen als die anderen, denen die guten Leistungen manchmal in den Schoß fallen." Stephan Dorgerloh notiert eifrig mit und erwidert: "Wir haben uns im Kultusministerium aus fachlichen Gründen für diese Regelung entschieden. Ich werde aber diese Anregung ebenso wie Ihre weiteren Hinweise mitnehmen."

Einer dieser weiteren Hinweise: Die Abgeltungsstunden, mit denen Lehrer für die Arbeit mit gemeinsamem Unterricht unterstützt werden, sollten flexibler gehandhabt werden. Außerdem sollte auch ein Zurück möglich sein: an andere spezialisierte Förderschulen, wenn ein Schüler die Förderung im gemeinsamen Unterricht nicht annimmt, lautet eine Forderung aus der Burger Sekundarschule während des Gesprächs mit dem obersten Dienstherrn.

Andere Schulen, in denen aufgrund nur weniger Förderschüler die Sonderschulpädagogen nicht ständig präsent sind, dürften indes vor einem ganz anderen Problem stehen: Wie können sie mit den wenigen Stunden auskommen, während derer die Experten vor Ort sind? Mancherorts werden zudem Befürchtungen laut, dass die Inklusion - mit der auch der eine oder andere Förderschulstandort zur Disposition stehen dürfte - ein Einstieg in ein Sparprogramm auf Kosten der Schulen sei: Mit dem Verzicht auf Förderschulen würden auch nach und nach die Planstellen für Sonderschulpädagogen abgebaut. Denn dass Stellen einspart werden sollen, widerspricht indes der Sprecher des Kultusministeriums, Philipp Hoffmann. Die Förderstunden, die den Schülern zustünden, stünden nicht in Frage.

Und auch Schulleiter Scholz antwortet auf solche Sorgen und Einwände mit Blick auf die eigenen Erfahrungen: "Die Schulen müssen unbedingt die Angebote zur Weiterbildung nutzen." Ähnlicher Ansicht ist auch der Kultusminister. Dorgerloh ergänzt: "Ich will in Zukunft, dass alle jungen Sekundarschullehrer, die von der Universität kommen, Wissen über Sonderschulpädagogik haben. Ich will keine Absolventen mehr, die noch nie etwas davon gehört haben, wie man auf die Bedürfnisse von Schülern mit Förderbedarf eingeht." Bedenkenträger von anderen Schulen möchte der Kultusminister einladen, an der Burger Sekundarschule einmal vorbeizuschauen.

Mit dem Schulklingeln ist auch der Politikerbesuch fast zu Ende. Ein paar Minuten von ihrer Pausenzeit gestehen die Schüler ihrer Lehrerin Inken Kurdum heute zu. Danach erklärt Klassensprecher Max Minge: "Das war das erste Mal, dass uns ein Minister im Unterricht besucht hat. Und es hat doch alles bestens geklappt." Dass seine Klasse angesichts der hohen Zahl von Förderschülern etwas Besonderes ist, mag für Außenstehende außergewöhnlich erscheinen. "Für uns ist es vollkommen normal, dass wir eine gemeinsame Klasse sind", bekräftigt Minge.

Der Minister ist\'s ebenfalls zufrieden: "Es ist klar, dass eine solche Umstellung Aufregung mit sich bringt. Aber die Clausewitz-Schule beweist ja: Es kann funktionieren." Seite 5