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25 Jahre Mauerfall Brocken: Eine Geheimnummer öffnet das Tor

23 Tage und 13 Stunden, nachdem der Berliner Grenzübergang Bornholmer
Straße friedlich geflutet worden war, gaben auch die Grenzer auf dem
Brocken den Widerstand auf und ließen Tausende aufs gesperrte Plateau.
25 Jahre später erinnern sich zwei Harzer vor und hinter dem Sperrgitter
an jenen 3. Dezember 1989.

Von Dennis Lotzmann 02.12.2014, 02:11

Schierke l Überlegen? Länger nachdenken? Im Gegenteil: Werner Vesterling muss nicht eine Sekunde überlegen, wenn es um den friedlichen Fall der Brockenmauer geht. Die Erinnerungen an den 3. Dezember 1989 sind bei dem Harzer so präsent, als wäre all das gestern gewesen. Aus gutem Grund: Vesterling, damals 49, selbstständiger Elektromeister in Schierke und im Neuen Forum aktiv, gehörte zu den Initiatoren eines Protestmarsches hinauf zum Brockenplateau.

"Ich bin damals in der ganzen DDR dienstlich unterwegs gewesen. Wir haben unsere Beleuchtungstechnik sogar im Palast der Republik installiert. In Berlin bekam ich so Kontakt zum Neuen Forum." Vesterling ist als "gelernter DDR-Bürger" zu diesem Zeitpunkt längst gewieft genug, um zu wissen, wie er ohne anzuecken zum Ziel kommt. Er kennt viele Leute, hat Beziehungen und Zugriff auf Dinge, die bei den allgegenwärtigen Tauschgeschäften in der DDR was wert sind. Er ist nie SED-Mitglied, beäugt das System eher kritisch und kann doch im Sperrgebiet leben. Dort haben, erfährt er nach der Wende, zehn Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit ein Auge auf ihn. "Meine Stasi-Akte ist 400 Seiten dick."

Dass Vesterling just an jenem 9. November 1989 gerade in Berlin ist und am nächsten Morgen zum ersten Abstecher in den Westen pilgert, ist reiner Zufall. Dass er daheim im Harz in den Tagen danach immer wieder voller Sehnsucht in Richtung Brocken schaut, nur logisch. "Mittlerweile waren längst alle Grenzen offen, fast täglich wurden im November `89 im Harz neue eröffnet. Nur um unseren Berg bestanden weiter die Sperrzone und die hermetische Abschottung des gesamten Plateaus. Das wollten wir Schierker einfach nicht länger hinnehmen", erinnert sich Vesterling.

Gustav Witte gehört damals zu den wenigen Auserwählten, die nicht nur einen blauen Zugangsstempel im Ausweis haben, sondern auch einen roten. Blau war die Berechtigung, sich im grenznahen Ort Schierke aufzuhalten. Rot war das Ticket für die Brockenkuppe. Witte ist Angestellter der Deutschen Post und auf 1141 Metern für Funksignale zuständig. Nicht für die, die Staatssicherheit und sowjetischer Geheimdienst dort oben abzufangen versuchen, sondern für die Fernseh- und Hörfunksignale von DDR-Fernsehen und -Rundfunk. "36 Beschäftigte waren wir, ich war zuletzt Gruppenleiter Instandhaltung", berichtet er.

Werner Vesterling will eine Eskalation auf jeden Fall vermeiden, als er zusammen mit anderen Harzern den "Sehnsuchtsberg" zum ersten Mal seit 1961 wieder erklimmen will. "Wir wollten unbedingt hoch, aber es sollte wie in Berlin und an der Grenze friedlich bleiben." Zusammen mit anderen Harzern verbündet er sich und geht in die Offensive.

In Ilsenburg formiert sich ein "Komitee zur Öffnung des Brockens". Dank der offenen Grenzen gelingt es sogar, den Aufruf zum friedlichen Gipfelsturm in Westzeitungen zu inserieren.

Werner Vesterling ist ebenfalls nicht untätig und lädt per Aushang in seinem Geschäft zur Demo am ersten Advent - Sonntag, 3. Dezember 1989 - ein. Vom Parkplatz in Schierke aus soll es losgehen.

Aktionen, die auch die "staatlichen Organe" nicht gänzlich untätig bleiben lassen. Obwohl längst mit sich selbst und dem Verwischen von Spuren beschäftigt, registrieren SED und Stasi die Entwicklung. Pünktlich zum 1. Dezember reagiert die Staatsmacht: Unter der Überschrift "Brockentour kein Traum mehr" informiert der Vize der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises in der Volksstimme, dass das Sperrgebiet rund um den Brocken per sofort aufgehoben sei. Allein das mit einer 3,60 Meter hohen Mauer umzäunte Brockenplateau sei als militärisches Sperrgebiet weiter tabu.

Was vermutlich gedacht war, um den Dampf vom Kessel zu nehmen, registrieren auch Vesterling und die Partner unten in Ilsenburg. "Zufriedengeben", sagt Werner Vesterling heute, "wollten wir uns damit allerdings nicht."

Wohin die "Reise" an jenem Adventssonntag gehen wird, vermag jedoch auch er nicht zu prophezeien. "Ehrlich gesagt, hatte ich schon reichlich Respekt. Schließlich wusste jeder in Schierke, was da oben auf dem Brocken abgeht. Trotz allgegenwärtiger Überwachung funktionierte der Buschfunk." Und Vesterling war selbst immer wieder dienstlich oben, um Kabel zu verlegen oder Elektro-Anlagen zu warten.

Erst mal ist er aber verwundert, als an jenem sonnigen 3. Dezember sein Telefon klingelt. "Gegen 9 Uhr meldete sich das Volkspolizei-Kreisamt bei mir und wollte wissen, wie viele Polizisten als Geleitschutz geschickt werden sollen. Keine, habe ich gesagt. Ich habe ja darauf gehofft, dass alles friedlich bleibt, das war unser Credo."

Am Ende sind es vier Polizisten, die zusammen mit den Schierkern starten. Die erste Überraschung erlebt der Zug auf der Brockenstraße. Dort, wo der Zug aus Ilsenburg hinzu stößt. "Kurz hinter der Gabelung stand eine Feldküche und zwei Grenzer boten Bockwurst und heiße Getränke an." Ging es um Deeskalation? Werner Vesterling kann sich bis heute keinen Reim darauf machen und weiß auch nicht, wer die Grenzer schickte und woher sie kamen. "Nett waren sie, das ist mir in Erinnerung geblieben."

Wenig später nähert sich der Zug dem Brockenplateau. Immer mehr Menschen kommen aus allen Himmelsrichtungen zusammen. Und so stehen sie plötzlich vor dem Tor und begehren Einlass. Werner Vesterling ist zusammen mit seiner Frau Margot unterwegs, die Kinder Kristin (14) und Thomas (12) sind ebenfalls dabei. Und das Tor ist dicht.

Die Grenzer oben wussten natürlich Bescheid und hatten vorgesorgt, sagt Gustav Witte. Auch sie wollten vor allem eines: keine Eskalation. Der Sicherungstrupp der Grenzkompanie Schierke ist in normaler Stärke vor Ort - vorsorglich unbewaffnet. Brockenkommandant Major Frank Reinicke hat Major Manfred Schulz zur Verstärkung an seiner Seite. Um Meldung nach oben zu machen und die Leute am Tor zu beschwichtigen. Zunächst sieht es noch so aus, als ob das gelingt.

"Die wollten nicht aufmachen und ich habe sie gefragt, was sie denn noch beschützen wollen. Die DDR war doch schon fast in Auflösung", sagt Vesterling. Der greift wenig später zu einem Zettel und imponiert damit sogar Schulz und Reinicke. Denn auf dem Zettel steht nichts Geringeres als die streng geheime Telefonnummer vom zuständigen Grenztruppen-General Harald Bär in Stendal. Die hat Vesterling über das Neue Forum in Berlin organisiert. Jetzt werden die Zahlen zum Schlüssel. Er möge den General doch mal anrufen, rät Vesterling und macht damit wohl ordentlich Eindruck auf die Grenzer.

Schulz marschiert tatsächlich zum Bahnhof der Brockenbahn, dem Domizil der Grenztruppen. 20 Minuten später kommt er zurück und kündigt an, worauf alle warten. "Sie würden jetzt öffnen und einzeln einlassen, weil sie nicht genug Wachpersonal haben", erinnert sich Vesterling. Als sich das Tor Minuten später öffnet, gibt es kein Halten mehr - der Brocken wird von Tausenden Menschen geflutet wie gut 23 Tage zuvor der Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin. Die Uhren zeigen etwa 12.45 Uhr an jenem ersten Advent des Jahres 1989.

Sowohl bei den Sowjets als auch der Stasi sind die Offiziere auf Tauchstation gegangen. Die einfachen Sowjetsoldaten freuen sich derweil über die Abwechslung, holen kurzerhand den Samowar raus und kassieren einige Groschen. Auf dem eben noch hermetisch abgesperrten Plateau herrscht Volksfeststimmung.

"Wir hatten einen atemberaubend weiten Blick", erinnert sich Werner Vesterling. Und eine Episode ist ihm noch in Erinnerung: "Als wir den Gipfel verließen, waren die beiden Eisentore schon ausgehängt." Nichts auf dem höchsten Berg in Deutschlands Norden ist mehr, wie zuvor 28 lange Jahre lang.

Gustav Witte ist an jenen turbulenten Tagen krank, erholt sich von einer Operation und beobachtet die Demon-stranten vom Schlafzimmerfenster aus. Wie er es sagt, lässt es keinen Zweifel: Am liebsten wäre er damals selbst dabei gewesen. Den Westen hatte auch er zuvor schon besucht. "Wir waren gleich nach dem Mauerfall drüben bei unseren Kollegen vom Sender Torfhaus - um quasi als Brigade mal zu schauen, was die so machen." Sofort ist klar: Man spricht eine Sprache. Und: "Die haben uns CB-Funk mitgegeben, damit wir uns direkt verständigen konnten."

Werner Vesterling bleibt seinem Beruf als Elektromeister bis 2014 treu - dem Jahr des 50-jährigen Firmenjubiläums. Gustav Witte arbeitet nach der Wende weiter hoch oben auf dem sagenhaften Brocken - bis Ende 1999 für die Telekom.

"Etwa Besseres, als Wende, Mauerfall und schließlich Brockenöffnung konnte uns, konnte Deutschland, nicht passieren." Darin sind sich die beiden Männer, die einst auf unterschiedlichen Seiten der Brockenmauer Dienst taten, einig.