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Essstörungen Das Gefühl, nicht gut genug zu sein

Im letzten Teil unserer Serie „Abenteuer Familie“ geben Magdeburger Experten Rat rund ums Thema Magersucht und Bulimie.

Von Kerstin Singer 30.03.2017, 01:01

Magdeburg l Jeder dritte Schüler im Alter von zwölf bis 20 Jahren leidet an einer Form von Essstörung. Die Bandbreite reicht von Magersucht bis hin zu Übergewicht, auch Adipositas genannt. In den meisten Fällen hat dies nur wenig mit falscher Ernährung zu tun, wie Professor Hans-Henning Flechtner, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Kindes- und Jugendalters der Universitätsklinik Magdeburg, berichtet. Auch die Sehnsucht vieler Mädchen nach einer Modelfigur und die damit einhergehende Unzufriedenheit mit dem eigenen Gewicht spielen eine untergeordnete Rolle.

Viel häufiger steckten psychische Konflikte dahinter, die sich in übermäßiger Kontrolle des Körper-gewichtes oder in der Angst vor Kontrollverlust äußern. Die Trennung der Eltern, Missbrauchs-erfahrung, aber auch mangelnde Wertschätzung in der Kindheit können Erkrankungen wie Magersucht und Ess-Brech-Sucht (Bulimie) auslösen, wie Evelin Nitsch-Boek, Leiterin der Drogen- und Suchtberatungsstelle Magdeburg (DROBS) aus jahrelanger Beratung berichtet. Oft seien es sehr leistungsorientierte Eltern, die ihren Kinder – meist sogar unbewusst – das Gefühl weitergeben, dass sie nicht gut genug sind. „Deshalb ist es wichtig, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken und ihnen auch die Autonomie zu lassen, sich frei als Persönlichkeit zu entfalten“, rät die Expertin.

Oft entwickeln Essgestörte ein Talent dafür, ihre Sucht zu verheimlichen. „Mit Aussagen wie ‚ich habe keinen Hunger‘ oder ‚ich bin jetzt Vegetarier‘ sollten sich Eltern nicht abspeisen lassen“, rät Flechtner. Aber auch Vorwürfe sollten vermieden werden, weil sie eher dazu führen, dass die Kinder sich gar nicht mehr gegenüber den Erwachsenen öffnen.

Weil die Ursache nicht im Essen selbst, sondern an anderer Stelle liegt, hilft es laut Flechtner auch nicht alleinig, regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten zu haben. „Viel wichtiger ist ein gesundes Beziehungsklima zwischen Eltern und Kind“, so der Psychiater. Spürten Eltern, dass sie nicht mehr an ihr Kind herankämen, könne auch eine andere Vertrauensperson, zum Beispiel ein Schulsozialarbeiter, diese Rolle übernehmen. Wenn Eltern eine deutliche Veränderung der Essgewohnheiten und des Gewichtes ihres Kindes – ohne erkennbaren Grund etwa fünf bis zehn Kilo Gewichtsverlust – beobachten, sollten sie zunächst den Kinderarzt konsultieren. Hat es keine organischen Ursachen, ist ein Kinder- und Jugendpsychiater oder bei jungen Erwachsenen ein spezialisierter Psychotherapeut der richtige Ansprechpartner. „Viele junge Frauen müssen jedoch bis zu zwölf Monate auf eine ambulante Therapie warten“, berichtet Nitsch-Boek. In Sachsen-Anhalt ist zum Beispiel die Burgenlandklinik in Bad Kösen auf Essstörungen spezialisiert. Für die Wartezeit oder den Anschluss an eine Therapie empfehle sich eine Selbsthilfegruppe.

Essstörungen äußern sich in unterschiedlicher Form. Anbei eine Übersicht über die verschiedenen Formen:

Magersucht:

Diese als typisch weiblich geltende Erkrankung wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt. Die Mediziner sprechen von Magersucht, sobald der Body-Mass-Index unter einen Wert von 17,5 fällt, weil die Erkrankten die Nahrungsaufnahme absichtlich reduzieren oder verweigern. Die Betroffenen sind meist Mädchen oder Frauen, die panische Angst davor haben, „fett“ zu werden. Die Erkrankung tritt am häufigsten ab etwa einem Alter von zwölf Jahren auf, wird deshalb auch Pubertätsmagersucht genannt. „Manche Mädchen haben ein Problem damit, zur Frau zu werden“, erklärt Flechtner. Es können aber auch ganz andere innerpsychische Vorgeschichten wie Missbrauch und Suchterkrankungen in der Familie zu der Erkrankung führen. Gerade in der Pubertät würden Mädchen dazu neigen, Aggressionen nach innen zu richten. Unsicherheit und Selbstzweifel, auch am eigenen Körper, begünstigen Magersucht.

Von alleine geht Magersucht in der Regel nicht weg, sie muss behandelt werden. Die Therapie bezieht meist die ganze Familie mit ein. In lebensbedrohlichen Fällen müssen die Mädchen auf die Intensivstation. „Für die Eltern ist es oft nur schwer auszuhalten, dem Gewichtsverlust ihres Kindes zuzusehen“, erklärt Flechtner. Ein Drittel der Betroffenen kann geheilt werden, bei einem Drittel tritt die Krankheit immer wieder auf, bei einem Drittel bleibt sie chronisch. Etwa zehn Prozent der Magersüchtigen sterben im Erwachsenenalter an den Folgen, zum Beispiel, weil die Herzfunktion gelitten hat.

Ess-Brech-Sucht (Bulimie):

Im Vergleich zur Magersucht fällt diese Erkrankung wesentlich weniger auf, weil die Betroffenen oft wenig oder kaum an Gewicht verlieren. „Viele sind auch sehr geschickt darin, es zu verheimlichen“, berichtet Flechtner. Bulimie als Erkrankung sei daher auch erst seit 1979 bekannt. Die Betroffenen leiden unter Fressattacken und beschäftigen sich ständig mit der Kontrolle ihres Körpergewichtes, so dass Nahrung wieder vorsätzlich erbrochen wird. Laut Flechtner liegen dieser Krankheit andere Konflikte zugrunde als bei der Magersucht. Es sei eine Form von Selbstverletzung, die meist bei Mädchen auftrete und mit einem instabilen Verhalten einhergehe. Eine Therapie sei meist ambulant möglich. Weil viele der Betroffenen schon volljährig seien oder in der späteren Adoleszenz, sei ein Mitwirken der Eltern auch nicht mehr so ausschlaggebend wie bei der Magersucht.

Ess-Sucht (Binge-Eating):

Diese Erkrankung ist weniger erforscht. Sie unterscheidet sich von der Bulimie darin, dass die Nahrung nach einer Fressattacke nicht mehr bewusst erbrochen wird. Daher sind Ess-Süchtige auch meist übergewichtig. Allerdings kann diese Essstörung auch dazu führen, dass die Betroffenen in eine Magersucht oder Bulimie abgleiten. Daher sollte sie unbedingt behandelt werden.

Lesen Sie zum Thema das Interview mit einer Betroffenen und weitere interessante Beiträge zur Familienserie finden Sie unter www.volksstimme.de/dossiers/abenteuer-familie