1. Startseite
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Reisen
  6. >
  7. Überraschendes Stettin

Reise Überraschendes Stettin

Barock, Moderne, Industriekultur und die vielleicht besten Heringe der Welt

Von Axel Ehrlich 14.09.2020, 12:53

Wer sich auf Szcecin –oder Stettin – einlässt, wird reich belohnt. Hinter jeder Ecke lauern spannende Gegensätze und immer neue Überraschungen. Vorstädte bummeln, Hafenmeile schnuppern, unter die Erde gehen, Geschichte aufsaugen, Dinge essen, die man noch nie gegessen hat ...
Stettin ist eine Stadt auf den zweiten Blick. Kein touristisches Gesamtkunstwerk wie Venedig, Prag oder Bamberg. Eine Stadt mit Ecken und Kanten, Brüchen, mit dem Charme des ewig Unfertigen. Sternförmig angelegte Villenviertel mit Kreisverkehren und Eichenalleen, die an Paris oder Berlin erinnern, gelegentlich unterbrochen von kommunistischer Brutal-Architektur. 1944 wurde die prächtige Innenstadt bei einem alliierten Luftangriff nahezu völlig zerstört. Die Wunden sind noch hier und da zu sehen - werden aber langsam weniger.
Den vielleicht besten Überblick hat man von der Haken-Terrasse direkt am Ufer der Oder. Sie wurde benannt nach dem noch heute sehr verehrten Bürgermeister Hermann Haken (1828-1916), der die Geschicke der Stadt 41 Jahre lenkte. Stadtführerin Magda Hanusz erklärt das Panorama, das den Betrachter wie ein buntes Wimmelbild umgibt: Zwei Klinkerbauten, die majestätische Meeresakademie (hier lernen seit über 100 Jahren Schiffsoffiziere ihr Handwerk) und die Regionalverwaltung umrahmen das pastellfarbene Nationalmuseum. Das beherbergt eine veritable Sammlung afrikanischer Kunst.
Die prächtige Freitreppe führt hinab zur Oderpromenade. Hier flanieren die Stettiner beiderseits des Flusses, genießen am aufgeschütteten Party-Strand ein eiskaltes Bosman-Bier, natürlich in Stettin gebraut. Oder im Riesenrad des benachbarten Vergnügungsparks den leichten Salzwind, der von Ostsee und Oderhaff herüberweht. Übers Wasser schippern Segelyachten, Ausflugsdampfer und ab und zu ein paar dicke Pötte Richtung Hafenpier.
Die hypermoderne Fassade der Philharmonie aus mattem weißen Glas erinnert in ihrer Form an die prächtigen Giebel der Hansehäuser, die einst in der ganzen Altstadt standen. Wegen ihrer Farbe auch ein bisschen an Eisberge - und nachts, angestrahlt von tausenden farbigen LED-Lichtern gern auch mal an die polnische Nationalflagge oder flirrende Polarlichter.
Von den Barcelonaer Architekten Fabrizio Barosi und Albert Velga entworfen, 2014 für umgerechnet 25 Millionen in kühler, moderner Pracht gebaut - die edlen Materialien wurden komplett aus Mallorca herbeigeschippert. Die Ticketpreise für die beiden Konzertsäle sind dabei durchaus volkstümlich - ab umgerechnet 2,50 Euro.
Auf dem Platz vor der Philharmonie protestierten 1970 tausende Werftarbeiter, Studenten und Soldaten gegen massive Preiserhöhungen und kommunistische Willkür. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, 15 Menschen erschossen, mehr als 100 verwundet. Heute erinnert ein Denkmal mit den Namen der Opfer an die Geschehnisse. Gleich nebenan geht es weniger ernst zu. Die weite, abschüssige Fläche des Platzes ist die womöglich größte Skater-Bahn in ganz Polen.
Mehrmals pro Woche kocht die Schokoladenfabrik „Greif“ eine neue Charge Industrie-Schokolade. Dann riecht die halbe Innenstadt rund um das Oderufer verführerisch nach Kakao. Ein kostenloses Vergnügen.
Highlight der mittelalterlichen Peter- und Pauls-Kirche ist eine ganz besondere, gut 500 Jahre alte Sparbüchse an der Außenwand, eine Art umgekehrter Geldautomat. Wer in den Schlitz in einer Mauernische ein Geldstück wirft, tut etwas Gutes für die Armen. Die Münzen landen in einer Kassette im Inneren der Wand, die alle paar Wochen geleert wird. Über dem Einwurfschlitz wachen die Skulpturen der beiden Kirchen-Stifter mit strengem Blick darüber, dass niemand Hosenknöpfe oder Unrat hineinstopft.
Auf einem Hügel über der Oder thront das Schloss der pommerschen Herzöge. Von hier aus herrschte die Dynastie der Greifen über die Pommern. Heute ist das nach dem zweiten Weltkrieg in seiner jetzigen Form rekonstruierte Schloss Museum, Oper und Restaurant.
Fisch können sie in Stettin. Unbedingt versuchen: die sensationellen Heringe von Boleslaw Sobolewski. Der Chef des Restaurants „Na Kuncu Korytarza” serviert selbst. Kleine Häppchen auf großer Silberplatte: Hering mit Majoran und Knoblauch, mit Sherry- und Lebkuchensoße, mit Himbeeren oder weiß-rot wie die polnische Flagge. „Danach müsst Ihr unbedingt meinen selbst angesetzten Meerrettich-Wodka probieren“, sagt Boleslaw. Alles großartig. Fanden übrigens auch die Tester von Gault Millau und Feinschmecker. Für Mutige: Hahnenkamm in Sahnesoße. Schmeckt ganz lecker.
Pasztecik (Pastetchen) heißt die heiße, fettige Teigrolle - entweder mit Fleisch, Kohl oder Champignons gefüllt. Schmeckt nach mehr, macht amtlich satt und kostet umgerechnet nur etwa ein Euro, gibt es an mehreren Imbissbuden in der Stadt.
Seit 1969 wird das spezielle Stettiner Fastfood maschinell hergestellt. Mit einer Maschine, die ursprünglich das Essen für 5000 sowjetische Soldaten portionierte. Pasteczik gibt es stilecht auf dem Plastikteller, dazu im Plastikbecher Barszcz, eine würzige, klare Rote-Bete-Brühe, die ziemlich warm ums Herz macht.
Wenn es ein Stettiner Nationalgericht gibt, ist das wahrscheinlich „Stettiner Paprika Gericht“ (Paprykarz). Eine Mischung aus Reis, Paprika, Tomatenmark, Zwiebeln, kleingehacktem Fisch und ein paar Gewürzen. In den 60er Jahren von Stettiner Fischereikombinat als Matrosen-Essen erfunden und in Dosen abgefüllt und zur Kult-Konserve avanciert.
Kaum zu glauben, dass, nur ein paar Kilometer von der Ostseeküste entfernt, ein beachtenswerter Wein heranreift. Durch die Meeresnähe sind die Winter mild, die Sommer nicht zu heiß. Und es gibt genügend Sonne. Reeder Marek Kojder (52) hat eines Tage seine Schiffsbeteiligungen verkauft und sich stattdessen in der hügeligen Feldmark ein paar Kilometer östlich von Stettin einen eigenen Weinberg angelegt.
Auf inzwischen acht Hektar wachsen hier die weißen Rebsorten Sauvignier Gris, Solaris und Johanniter. „Der beste Wein Polens“, schrieb Expertin Jancis Robinson in der „Financial Times“. Insgesamt 32?000 Flaschen füllt Marek pro Jahr ab.
Unter dem Hauptbahnhof geht es erst durch eine unscheinbare Stahltür, dann fünf Stockwerke in die Tiefe. Es riecht muffig, die drei Meter dicken Betonwände sind feucht. Es ist der größte Luftschutzbunker seiner Zeit: 3000 Quadratmeter groß. Als Stettin 1944 bombardiert wurde, fanden in dem Bunker bis zu 5000 Menschen Schutz, erklärt Führerin Agnieszka Fader. An den Wänden finden sich noch heute deutsche Aufschriften: „Wasser sparen“, „Gerüchte verbreiten ist Verrat“. Eine beklemmende und lehrreiche Geschichtsstunde.
Vom Turm der 110 Meter hohen Jakobikirche kann man bis weit ins Stettiner Umland schauen. Im Inneren des Gotteshauses findet sich, in einem Pfeiler eingemauert, das Herz des Komponisten Carl Loewe (1796-1869). Er stammt aus Löbejün bei Halle, wirkte fast 50 Jahre in Stettin.
Gleich um die Ecke, im barocken Grumbkow-Palais, wurde Sophie Auguste von Anhalt Zerbst, die spätere Zarin Katharina die Große (1729-1796) geboren. Im damals berühmtesten Hotel der Stadt, dem Preußenhof, schrieb der in Schönhausen bei Havelberg geborene Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) den „wichtigsten Brief seines Lebens“ - in dem er seine künftigen Schwiegereltern um die Hand der Angebeteten Johanna bat.
Eine Spazierroute mit 13 Stationen führt an den Häusern der Promis vorbei. Dabei erfährt man, wie zum Beispiel Schauspieler Heinrich George (1893-1946, Vater von Götz „Schimanski“ George), Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890-1935) oder Operetten-Komponist Leon Jessel (19871-1942, „Schwarzwaldmädel“) lebten.
Hinter dem Rathaus, von den Stettinern wegen seiner dunkelgrünen Fassade „Spinatpalast“ getauft, erstreckt sich der riesige, von schattigen Platanenalleen umsäumte Quistorp-Park, benannt nach dem Stettiner Zementfabrikanten Johannes Quistorp (1822-1899), der den Park 1925 seiner Stadt schenkte.
Auf der Wiese blühen im Frühjahr tausende Krokusse, im Sommer picknicken hier Familien. 1985 versammelten sich hier 500?000 Menschen, um Papst Johannes Paul II bei seinem Stettin-Besuch zu sehen.
Ein bisschen weiter draußen, in einem ehemaligen Straßenbahndepot kümmern sich Direktor Stanislaw Horoszko und seine Mitarbeiter um ein wichtiges industrielles Erbe der Stadt. Die berühmten Stoewer-Automobile, -Nähmaschinen und -Fahrräder wurden hier von 1858 bis 1945 hergestellt. Tickets ab 3 Euro.