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Tragödie Das lange Sterben einer jungen Frau

Eine gescheiterte Hochzeit war offenbar Auslöser des Mordes an einer 21-jährigen Syrerin in Dessau. Unter Mordverdacht steht ihre Familie.

Von Oliver Schlicht 07.10.2015, 01:01

Dessau l Es ist ein Protokoll des Schreckens, das die ermordete Rokstan M. hinterlassen hat. Ein etwa 45 Minuten langes Gespräch, aufgezeichnet vier Wochen vor ihrem Tod von dem Autor Mark Krüger*. „Ich habe an einem Buch über die Schicksale von Flüchtlingen gearbeitet, die nach Dessau gekommen sind“, erzählt er. Rokstan M. beschreibt er als kleine, zierliche Frau, die er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin auch privat besucht habe.

Ruhig und gefasst erzählt die gut Deutsch sprechende Frau in dem Interview-Mitschnitt von ihrem Leben. Mehrfach belastet sie schwer ihre Mutter, die versucht habe, sie zu töten, weil sie „beschmutzt“ war. Sie sei in ihrem Heimatdorf im Alter von 17 Jahren von drei Soldaten der Assad-Regierungstruppen vergewaltigt worden, erzählt Rokstan in dem Gespräch.

Die Ereignisse bis zu ihrem Tod am zurückliegenden Freitag lassen sich rekonstruieren. Grundlage sind das Interview und Gespräche, die Krüger mit ihrer besten Freundin, einem guten Bekannten von ihr und ihrem 17-jährigen Freund geführt hat. „Ich glaube nicht, dass jemand gelogen hat. Aber ausschließen kann ich das natürlich nicht“, so der Autor.

Rokstans Familie lebt in einem kurdischen Dorf im Norden Syriens. Die Mutter ist immer wieder schwanger. Schon im Alter von zehn Jahren muss Rokstan das Vieh versorgen. 2009 geht der Vater zur Heilung einer Krebserkrankung nach Deutschland. „Meine Mutter und ihre Familie waren nicht gut zu mir. Sie haben mich immer geschlagen“, erzählt sie.

2011 schließt das kluge Mädchen die Schule ab. In Deutschland wird sie später in nur sechs Monaten so gut Deutsch lernen, dass sie als Sprachlotsin eingesetzt wird. „In Syrien wurde mein Name auf dem Zeugnis in roter Schrift geschrieben, weil ich Kurdin bin. Deshalb habe ich keinen Abschluss bekommen.“

2011 bricht der Krieg aus. Sie sieht Freunde sterben, es kommt immer wieder zu Vergewaltigungen durch Assad-Truppen auf offener Straße. Auch die 17-jährige Rokstan ist betroffen.

„Ich war total kaputt, konnte nicht mehr laufen. Die Stimmen von drei Männern habe ich gehört“, erinnert sie sich. Der Cousin wird den Soldaten später Geld geben, damit sie das Mädchen in Ruhe lassen. Es bleibt bei diesem einen Vorfall. Doch die Mutter hat ihr Urteil gefällt. „Ich bin schmutzig“, hat sie gesagt. „Dieses Mädchen brauchen wir nicht.“ Mehrfach habe die Mutter versucht, sie umzubringen. „Sie hat mich gestoßen. Und sie hat mir Tabletten gegeben. Danach konnte ich nicht mehr laufen und musste ins Krankenhaus.“

2012 flüchtet die Familie – die Mutter, drei Brüder und ein Onkel – schließlich vor dem Krieg zunächst in die Türkei. Dort arbeitet die 18-Jährige bei einem Friseur. Ende 2013 bekommen sie ein Visum und können per Flugzeug nach Deutschland zum Vater ausreisen, der in Dessau lebt. Für Rokstan beginnt scheinbar ein neues Leben. Sie lernt schnell Deutsch, integriert sich gut. Sie ist glücklich, wieder bei dem Vater zu sein. „Er hat mich sehr lieb.“

Doch das Martyrium mit der Mutter geht weiter. „Ich sollte zum Arzt gehen, wieder Jungfrau sein und nicht mehr schmutzig“, erzählt sie. Die junge Frau wird im Frühjahr 2015 zu Hause von der Mutter und ihrem großen Bruder so schlimm mit Schlägen traktiert, dass sie zum Arzt muss. Der Mediziner und die Ausländerbehörde schicken sie in das Frauenschutzhaus Bitterfeld. Dort bleibt sie nicht. „Ich hasse das Frauenhaus“, sagt sie.

Es beginnt ein monatelanges Wechselspiel. Mal lebt sie zu Hause, dann kommt sie in einem winzigen Zimmer bei ihrer besten Freundin unter. Dann holt der am Telefon weinende Vater sie immer wieder in die elterliche Wohnung. Schließlich findet sie in einer Wohnung, wo mehrere syrische Männer und eine Frau leben, ihre „neue Familie“, wie sie sagt. Abends geht sie zu Fuß mit der Freundin in ihr zwei Kilometer entferntes Zimmer.

Doch Mitte des Jahres siedelt die Freundin nach Westdeutschland über. Diese Übernachtungsmöglichkeit entfällt jetzt. Rokstan beginnt, auch in der Wohnung zu übernachten, in der überwiegend Männer leben, um nicht zu den Eltern gehen zu müssen. Sie kommt sich mit einem 17-jährigen Araber näher. Rokstan wird schwanger. Die Familie erfährt wohl schließlich von dieser Schwangerschaft.

Der 17-Jährige kündigt dem Vater an, Rokstan heiraten zu wollen. Der Vater willigt ein. Doch zur Verlobungsabsprache erscheint die in Berlin lebende Familie des jungen Arabers im September nicht. Ein Affront. Die Hochzeit gilt als gescheitert.

Krüger glaubt, dass die Familie nun den Druck auf die junge Frau erhöht hat: Sie müsse sterben, um die „Ehre“ der Familie nicht durch die Geburt des Kindes zu beflecken.

Denkbar sei sogar, dass sie schließlich in ihren eigenen Tod eingewilligt hat. Denn Rokstan ändert das Erkennungsbild des WhatsApp-Chatprogrammes auf ihrem Smartphone. Statt ihres Bildes ist dort plötzlich in arabischen Schriftzeichen zu lesen, dass sie ihren Tod erwarte.

Diese Übersetzung ist Mark Krüger und seiner Lebensgefährtin unbekannt. Der letzte beantwortete Kontakt zwischen den beiden und der 21-jährigen Syrerin stammt vom Sonnabend, dem 26. September. Frage: „Warum antwortest du nicht? Habe ich etwas falsch gemacht?“ Antwort: „Nein, nur Stress. Ich habe euch vermisst. Ganz doll.“ An diesem Tag telefoniert die Lebensgefährtin von Krüger noch einmal kurz mit ihr. Es ist das letzte Lebenszeichen.

Dann der Freitag, 2. Oktober. Die Freundin im Westen informiert besorgt Krüger. Rokstan sei seit Tagen vermisst. Ein syrischer Bekannter von ihr beobachtet von der Straße aus die elterliche Wohnung. Keine Spur von der jungen Frau.

Krüger entschließt sich zu einem Trick. Er gibt sich als Mitarbeiter der Dessauer Wohnungsgesellschaft aus und gibt vor, sich zur Kontrolle der Heizungen in der Wohnung umsehen zu müssen. Er bekommt Zutritt, findet Rokstan aber nicht. Auch die Mutter ist nicht in der Wohnung. Sie kommt später. Der Bekannte vor dem Haus hatte sie verfolgt. Sie kam aus der Dessauer Gartensparte „Küchengarten“, wo die Familie eine Laube hat.

Krüger findet mit dem Mann am Nachmittag das Gartenhaus. Er klettert über den Zaun, rüttelt an der Tür, doch die ist verschlossen. Direkt neben der Laube finden die Männer eine frisch ausgehobene Grube in Grabesgröße. Krüger geht zur Polizei. Wenig später wird die Leiche der jungen Frau in der Gartensparte gefunden. Sie soll erwürgt worden sein. Eine offizielle Bestätigung für diese Todesursache gibt es bislang nicht.

Wann wurde sie ermordet? Wo wurde sie ermordet? Wer hat sie ermordet? Einer der Brüder? Die Mutter? Der Vater ist inzwischen nach Syrien zurückgekehrt. Eine Fahndung nach ihm wurde veranlasst. Die Polizei in Dessau ermittelt. Die Staatsanwaltschaft schweigt. Die Beweislage ist schwierig.

Vor der Gartenlaube wurden Blumen abgelegt.

*Name auf Bitten des Zeugen von der Redaktion geändert