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30 Jahre Mauerfall Die Hälfte sieht sich als Wendegewinner

War der Mauerfall auch privat ein Glücksfall? Sechs Fragen an Volksstimme-Leser über Mauerfall, Ost-West-Unterschiede und Heimatgefühle.

Von Jens Schmidt 09.11.2019, 00:01

Magdeburg l Das West-Ost-Gefälle ist immer noch groß. Dennoch: Dass Verdienste, Renten, Einkaufsmöglichkeiten und Reisefreiheiten heute ein viel höheres Niveau erreicht haben als vor dem Mauerfall, das erkennen die meisten an. Gut die Hälfte der 2558 Volksstimme-Leser sagt: „Ja, ich habe von der Wende profitiert.“ Es gibt aber auch die andere Seite: Mehr als ein Viertel sagen: „Mir hat die Wende eher geschadet.“

Das deckt sich auch mit repräsentativen Befragungen. Die aktuelle Umfrage des Marktforschungsinstituts Ipsos unter 2000 Deutschen sagt: Für 57 Prozent der Ostdeutschen war der Mauerfall ein Glücksfall. 29 Prozent verhalten sich unentschieden. 14 Prozent der Befragten beurteilen den Mauerfall negativ. Das hat Gründe.

Beispiel Sachsen-Anhalt: Während der Privatisierungs- und Schließungswelle in den 90er Jahren verloren in kürzester Zeit mehr als 270.000 Sachsen-Anhalter ihre berufliche Position. Selbst Facharbeiter und Ingenieure blieben über Jahre ohne angemessenen Job. Die Arbeitslosenquote erreichte in Sachsen-Anhalt 1997 den deutschen Spitzenwert von 22 Prozent. Erst seit etwa fünf Jahren erholt sich der Arbeitsmarkt spürbar. Die Arbeitslosenquote sank zuletzt auf 7 Prozent. Das hat wirtschaftliche aber auch demografische Gründe. Betriebe stellten wieder mehr Leute ein, zugleich kamen Arbeitslose ins Rentenalter und fielen daher aus der Statistik. Allerdings wird hier meist noch schlechter bezahlt als im Westen, und die Tarifbindung ist schwächer. Große Firmen mit ihren Forschungsabteilungen fehlen. Nicht ein Dax-Unternehmen hat im Osten seinen Hauptsitz. „Man muss Geduld aufbringen“, sagt Everhard Holtmann, Direktor des Zentrums für Sozialforschung Halle. „Bayern war auch bis in die 70er Jahre ein finanzschwaches Land.“

Die Einstellung zur Wende hängt auch stark von der privaten Haushaltskasse ab. Die Ipsos-Studie zeigt: 72 Prozent der ostdeutschen Gutverdiener-Haushalte (ab 3500 Euro im Monat) bewerten den Mauerfall positiv. Bei den mittelgut Situierten sind es 59 Prozent. Aber nur 27 Prozent der Haushalte mit knapper Kasse (bis 1500 Euro monatlich) können dem Mauerfall etwas Positives abgewinnen. Ein ähnliches Bild gibt es im Westen - allerdings mit anderen Begründungen. 54 Prozent freuen sich über den Fall der Mauer. 15 Prozent sehen das negativ: vor allem wegen der zu hohen Kosten der Einheit.

Zu Demokratie und Meinungsfreiheit haben Ostdeutsche ein kritischeres Verhältnis als Menschen im Westen. In der aktuellen Studie der Zukunftsforscher steht: 62 Prozent der Westdeutschen sagen, dass man hier frei seine Meinung äußern kann. Im Osten äußern das nur 52 Prozent. Der Abstand von zehn Punkten ist bei kaum einem anderen Thema größer als hier.

Der aktuelle Sachsen-Anhalt-Monitor (1100 Befragte) stellt fest: 60 Prozent der Sachsen-Anhalter sind enttäuscht darüber, wie die Demokratie derzeit funktioniert. 35 Prozent sind systemkritisch - das heißt, sie hadern auch mit der bundesdeutschen Verfassungsordnung.

Das spiegelt sich auch in der Leserbefragung wider: 63 Prozent bejahen zwar Demokratie grundsätzlich, bemängeln aber ihre Umsetzung. 26 Prozent sind sogar schwer enttäuscht und sagen: „Unter Demokratie stelle ich mir etwas ganz anderes vor“. Politikwissenschaftler Holtmann stellt fest: „Die Unzufriedenheit mit der Demokratie ist seit 2015 gestiegen.“ Das schlägt sich auch nieder in einem wachsenden Vertrauensverlust in die Bundesregierung. Der Sachsen-Anhalt-Monitor belegt einen heftigen Stimmungswechsel: Von 2007 bis 2014 stieg das Vertrauen in Merkels Staatskunst - seitdem sinkt sie.

Auslöser sind vor allem Flüchtlingspolitik und innere Sicherheit. 2014 hielten noch 71 Prozent der Befragten Sicherheit für wichtiger als Freiheit. 2018 waren es schon 75 Prozent. Erhöht hat sich das Sicherheitsbedürfnis bei Anhängern von CDU, SPD und Linken. Nur bei den Grünen gab es eine Trendumkehr. Vor allem die AfD zieht Profit aus der Krise: Sie mobilisiert Protest- und frühere Nichtwähler.

Als was sehen sich die Leute: als Altmärker, Sachsen-Anhalter, Deutsche oder Europäer? Die Mehrheit der Leser identifziert sich mit der Region und nicht mit dem Bundesland. Und auf der überregionalen Ebene bezeichnen sich die meisten als Ostdeutsche. Zu gleichen Resultaten kam auch der Sachsen-Anhalt-Monitor. Unterschiede gibt es in den politischen Lagern. FDP- und SPD-Anhänger hatten die höchste Bindung zum Wohnort. Bei CDU, Linken und AfD lag Ostdeutschland vorn. Ganz anders ticken die Grünen: Die sehen sich vor allem als Europäer. Genau das lehnen AfD-Anhänger am vehementesten ab.

Dossier 30 Jahre Mauerfall