Volksstimme: Herr Dr. Böhme, die Lage wird immer trostloser. Erst streicht Astrazeneca seine Liefermengen zusammen, nun bleibt der Impfstoff wegen gesundheitlicher Bedenken erstmal ganz im Kühlschrank. Wie bewerten Sie die Lage?
Dr. Jörg Böhme: Das ist eine Katastrophe. Aber die begann schon beim Bestellen der Impfstoffe. Da hat wohl die EU beim Verhandeln zu lange gezögert. Andere Länder hatten früher Impfstoff zur Verfügung gehabt und vor allen Dingen mehr.
Was muss sich ändern?
Unsere Forderung lautet, die Impfung gegen das Coronavirus schnellstmöglich in die Regelversorgung überzugehen. Die niedergelassenen Haus- und Fachärzte wollen und sollen impfen, egal, wie viel Impfstoff da ist.
Ab wann könnten die Ärzte starten?
Am liebsten gleich morgen.
Ist das realistisch? Die Gesundheitsministerin sprach mal von Mitte April. Das war vor der Astrazeneca-Krise.
Ich will nicht um eine Woche streiten. Ich sage: schnellstmöglich. Aber wir haben ja noch andere Impfstoffe. Mittlerweile wissen wir, dass sich auch Biontech begrenzte Zeit im Kühlschrank und mithin in jeder Arztpraxis aufbewahren lässt.
Würde es sich denn lohnen, die wenigen Dosen auf alle Hausärzte zu verteilen?
Aber ja doch. Wenn jede unserer 1500 Arztpraxen, die im Herbst 2020 den Grippeimpfstoff verimpft haben, in den nächsten Wochen nur 50 Dosen bekämen, könnten wir damit endlich die Über-80-Jährigen aus der Prioritätsguppe eins fertigimpfen - und zudem auch Patienten der Prioritätsgruppe zwei. Und zwar in kürzester Zeit. Dazu brauchen wir kein kompliziertes Bestellsystem. Wir rufen bei den Patienten an, vereinbaren einen Termin, Aufklärung, Impfung, das wars. Die meisten kommen ohnehin dreimal im Monat zu uns zum Zucker messen, zum Blutdruckmessen oder um sich Tabletten abzuholen. Wir kennen unsere Patienten. In den Impfzentren aber sind sie Fremde. Sie müssen für den Anamnesebogen erst viele Fragen beantworten. Der Hausarzt aber kennt die Vorerkrankungen und den Gesundheitszustand. Das würde in den Praxen also alles viel schneller gehen. Und für die Betroffenen wäre es auch gut. Was ist besser? 1000 Kollegen impfen jeweils zehn Patienten, die sie kennen - oder zehn Kollegen impfen tausend Menschen, die sie nicht kennen?
Wer muss den Hebel umlegen, damit die Arztpraxen flächendeckend impfen können?
Zuerst der Bundesgesundheitsminister. Und dann das Land. Bislang kommen ja alle Lieferungen zentral beim Land an - von dort werden sie auf die Impfzentren verteilt. Künftig müsste ein Kontingent an die Apotheken gehen, bei denen die Arztpraxen dann die Impfdosen bestellen.
Vorige Woche hieß es von der EU: Deutschland bekommt im April etwa 20 Millionen Dosen, das wären für Sachsen-Anhalt gut 500.000. Wie ist der Stand?
Die Menge hat sich halbiert. Uns gemeldet sind jetzt ab April 2,25 Millionen für den ganzen Bund, also zehn Millionen im Monat.
Das wären etwa 250.000 Dosen für Sachsen-Anhalt im Monat, also 12.500 pro Werktag. Die Impfzentren können laut Gesundheitsministerium maximal 17.000 Spritzen schaffen. Also bleibt doch nichts für die Arztpraxen übrig?
Die Impfzentren schaffen derzeit 6500 Impfungen pro Tag. Ich finde, dabei sollte es auch bleiben. Die Zentren können ja weiterhin bestimmte Berufsgruppen impfen. Wir würden unsere Patienten übernehmen - vor allem die Älteren. In den Praxen würden der Impfstoff zeitnah verimpft werden. Es müssten nicht hunderte Dosen in den Kühlschränken liegen bleiben in Vorbereitung auf eine Impf-Groß-Aktion für 1000 Bürgerinnen oder Bürger an einem Wochenende.
Die Hausärzte würden im Hausbesuch auch die nicht gehfähigen Patienten schnell erreichen. Da müssten die älteren Mitbürger nicht in ein Zentrum fahren - und die Dosen würden schnellstmöglich verimpft.
War die Einrichtung von Zentren falsch?
Anfangs waren sie nötig. Es hieß ja, der Biontech-Impfstoff müsse bei 70 Grad minus gelagert werden. Das können die meisten Praxen nicht gewährleisten. Außerdem gab es viel zu wenige Dosen. Und manche Politiker misstrauen den Ärzten. Karl Lauterbach sagte sinngemäß, die würden dann Bekannte und Freunde vorziehen. Nun ja. Mittlerweile wissen wir, dass auch in den Impfzentren etliche Bürger bevorzugt wurden. Aber das waren natürlich alles überzählige Impfdosen…
Was halten Sie davon, die Priorisierung ganz aufzugeben?
Die Priorisierung ist mehrfach geändert worden. Jetzt werden Lehrer vorgezogen. Klar, ist das eine wichtige Gruppe. Aber Feuerwehrleute und Polizisten sind auch wichtig; Ärzte auch - wo soll man anfangen, wo aufhören? Ich finde, wir Ärzte sollten uns dafür einsetzen, dass Ältere und chronisch Kranke weiter Vorrang haben. Sobald der Impfstoff kein knappes Gut mehr ist, können wir das öffnen. Dann kann jeder geimpft werden, der in die Praxis kommt.
Die Reihenfolge kam auch durcheinander, weil Astrazeneca erst nicht für Über-65-Jährige zugelassen war. Welche Impfstoffe würden sie wem empfehlen, wenn Sie als Arzt die Auswahl hätten?
Den Über-80-Jährigen würde ich weiter zu Biontech raten. Bei Astrazeneca sind die Nebenwirkungen am Tag danach doch meist recht heftig. Das könnte für ältere oder demente Patienten und deren Betreuer sicherlich schwierig werden. Ich halte es für richtig, dass der Einsatz des Astrazeneca-Impfstoffes nochmal überprüft wird. Sofern er bald wieder freigegeben wird, ist er aber für alle anderen Altersgruppen gut geeignet. Von Moderna haben wir zu geringe Mengen zur Verfügung. Nun warten wir auf Johnson&Johnson: da reicht eine Impfung.
Die Kanzlerin versprach, dass jeder bis September eine erstes Impfangebot bekommen wird. Ist das haltbar?
Ganz sicher nicht, wenn es bei diesem Impftempo bleibt. Zehn Millionen Dosen pro Monat - das wären 60 Millionen bis September, doch davon müssen wir auch Zweitimpfungen bestreiten. Wir bräuchten das Doppelte.