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Handwerk Auf eine Bürste zu Frau Römer

In Naumburg in Sachsen-Anhalt erhält eine 79-Jährige ein altes Handwerk aufrecht - das Pinsel- und Bürstenmachen.

Von Klaus-Peter Voigt 19.10.2019, 23:01

Naumburg l Bei mir kommt die ganze Welt durch, versichert Ursula Römer. Recht hat sie. Auf dem Weg vor ihrer Werkstatt flanieren tatsächlich Tag für Tag internationale Gäste. Ihr Ziel: das Weltkulturerbe Naumburger Dom. In der malerischen Gasse pulsiert das Leben. Eine urige Kneipe lädt ein, im Briefmarkengeschäft gibt es gezackte Schätze und dann wartet Ursula Römer auf Kundschaft.

Fast sachlich nüchtern weist ein Schriftzug auf die Bürsten- und Pinselmacherei hin. Kurt Steinbrück steht auf der Hausfassade, eine Reminiszenz an den Vater der 79-jährigen Naumburgerin. Der hatte das Handwerk bereits bei seinem Vater Carl gelernt. Die Tradition reicht bis in das Jahr 1885 zurück. Nach einer langen Wanderschaft, die ihn bis in die Schweiz führte, wagte der Firmengründer den Schritt in die Selbstständigkeit. Nachdem er landauf, landab Staub gewischt hatte, war dafür alles gerichtet.

Es sind wohl die Gene, die Ursula Römer antreiben, bis heute ihr Handwerk auszuüben. Ein heftiges Kopfschütteln erlebt man auf eine oft gestellte Frage. Nein, ans Aufhören denke sie nicht. Sie selbst hatte ja von 1957 bis 1960 den Beruf in ihrem Geburtshaus im Naumburger Steinweg erlernt. Sicher spielt die bescheidene Rente eine Rolle, aber ein Leben ohne Bürsten und Pinsel? Einfach unvorstellbar!

Deshalb geht es jeden Morgen die wenigen Stufen von der Wohnung in die Werkstatt, die gleichzeitig Ladengeschäft ist. Vor allem Touristen drücken sich am Schaufenster die Nasen platt und öffnen die Tür. In den warmen Monaten herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, die Wintermonate erweisen sich als Durststrecke. Dann liegt die ganze Stadt in einer unwirklichen Ruhe. Alle Geschäftsleute und Hotels spüren die Flaute.

„Höflichkeit kostet kein Geld“, sagt die Urnaumburgerin. Ein freundliches Wort gehört zum Geschäft dazu. Mundpropaganda ebenso, nur auf eine Internetseite zu verlassen, das wäre ihr als Werbemedium zu wenig.

Der uralte Holzhocker vor dem Ladentisch hat schon viele Jahrzehnte auf dem Buckel. Für eine Verschnaufpause der Kunden steht er bereit, ein kleiner Schwatz gehöre zum Tagesgeschäft. Bürsten- und Pinselmacher haben Seltenheitswert. Die Neugier lockt an. Wer auf Kommunikation Wert legt, erfährt dann auch, dass Ursula Römer seit mehr als 20 Jahren den Betrieb allein führt. Wie ihr Vater sei sie in Bürsten „regelrecht verliebt“.

Und die Zeiten haben sich tatsächlich geändert. Gute Handwerksarbeit kostet Geld. Sonderwünsche will heute kaum noch jemand bezahlen. „Gutes Material gibt es nicht für einen Appel und ein Ei“. Mitunter scheitert deshalb der Reparaturwunsch eines Kunden. Bei einer historischen Silberbürste drückt der eher ein Auge zu, erkennt den Aufwand, weiß um den Wert des aufgearbeiteten Stücks. Bedauernd zuckt Ursula Römer mit den Schultern: „Früher wurde Arbeit noch wertgeschätzt“. Das historische Stirneinzugverfahren erfordert besonderes Geschick. „Das kann heute kaum noch jemand. In die Löcher des Holzes wird Bündel für Bündel manuell eingezogen. Dafür sind harte Borsten notwendig, die maschinell nicht verarbeitet werden können“, berichtet die Bürstenmacherin. Die verschlossenen Bohrlöcher seien ein Markenzeichen für handeingezogene Exemplare.

Wissen um das richtige Material gehört zum Pinsel- und Bürstenmacher dazu. Wildschweinborsten beispielsweise finden bei Haarbürsten Verwendung. Mit ihnen wird die Kopfhaut massiert, den Haaren geben sie zudem einen schönen Glanz. Ursula Römer schwört zudem bei diesen Exemplaren auf Olivenholz. Für die Pflege von Schallplatten entstehen Bürsten mit Ziegenhaar. Weiches Dachshaar bevorzugen die Männer für ihren Rasierpinsel. Bei diesen steigt die Nachfrage, die nasse Rasur scheint im Aufwind.

Ohne Spezialisierung geht es kaum im Handwerksbetrieb. Deshalb liegen in den Auslagen vor allem Rasierpinsel eines Kollegen aus dem Erzgebirge. Allein die Beschaffung der richtigen Hölzer für die sogenannten Formstücke wird zunehmend schwerer. Das war einst deutlich einfacher.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es in der Saalestadt 17 Bürstenmacher, andere Handwerker stellten Kämme her. Zulieferer lebten von deren Wünschen, in vielen Betrieben wurde das Holz selbst zugerichtet. Heute sind in ganz Deutschland Bürsten- und Pinselmacher selten geworden, der Nachwuchs fehlt.

Aber eigentlich sind bestimmte Dinge unverändert. Spinnenbesen und Kleiderbürste gehören in jeden Haushalt. „Für eine saubere Wohnung und saubere Kleidung“, sagt die 79-Jährige. Sie freut sich über besondere Aufträge. Abklatschbürsten wünschten sich vor nicht allzu langer Zeit Wissenschaftler, die mit deren Hilfe feine Ritzungen beispielsweise in Steinen auf Pergamentpapier sichtbar machen wollten. Da findet sich kaum das richtige Arbeitsmaterial im Kaufhaus.

Und dann kommen Maskenbildner, die unter anderem im Theater auf hochwertiges Werkzeug beim Schminken der Künstler setzen. Pinsel oder Bürste, sind das nicht irgendwie Wegwerfartikel? Keineswegs sagt die Fachfrau. Gut gepflegte Artikel von hoher Qualität halten „ein halbes Leben“. Es sei wie überall, wer beim Einkaufen auf Kosten der Qualität spart, zahlt letztlich doppelt.

In der kleinen Werkstatt - wer möchte, darf bei der Arbeit zuschauen – klappt ständig die Tür. Fühlt sich die Firmenchefin nicht ein wenig eingesperrt? Sie sei kein Mensch, der selbst viel reist. Wie ein „Hund an der Kette“ sitze sie am Arbeitsplatz.

Die Fahrt in Naumburgs Partnerstadt Aachen, natürlich mit einem eigenen Verkaufsstand, habe so etwas wie Seltenheitswert. „Das war für mich wie eine Weltreise“, räumt die putzmuntere Seniorin ein. Die Welt komme zu ihr. Zum Beweis legt sie eines ihrer drei Gästebücher auf den Ladentisch. „Oh, das ist bald voll, ich muss ein neues kaufen“, hört man. Kunden aus Südafrika haben sich verewigt, ein Pfarrer aus Indien, Presseleute aus den USA, selbst Bundespräsident Roman Herzog hinterließ ein paar Zeilen.

So verliert Ursula Römer nie den Kontakt zur Welt. Sie beobachtet das Geschehen ringsum aufmerksam. Viele Dinge machen ihr Sorgen: „Wenn ich die Nachrichten höre, dann wird mir himmelangst. Die Unruhen überall auf der Welt …“. Doch ihren Optimismus will die Naumburgerin nicht verlieren.