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Aussteiger Abschied von Existenzängsten

Zwei Sachsen-Anhalter, beide in den 30ern, wollen raus aus dem Berufsalltag. Nicht untypisch für die Generation, wie ein Trendforscher sagt.

10.08.2016, 23:01

Halberstadt l Vor zwei Jahren merkt Sebastian Marx, dass etwas fehlt in seinem Leben. Aber er weiß nicht, was es ist. Der Job? Läuft. Freundin? Läuft. Und selbst als die Freundin nicht mehr da ist, läuft für ihn auch alles. Er ist 35, im Beruf erfolgreich, die Stadt Hamburg liegt ihm zu Füßen. Und trotzdem ist der gebürtige Halberstädter auf der Suche. Wonach, weiß er nicht. Aber finden muss er es, sonst würde ihn die Unruhe noch wahnsinnig machen. „Es war nicht so, dass es mir nicht gut ging“, sagt der gebürtige Halberstädter. „Es ging mir sogar sehr gut. Aber ich hatte das Gefühl, ich muss mal raus.“

Eine Reise soll für Ablenkung sorgen. Drei Wochen Amerika. Danach ist nichts mehr wie vorher. Sebastian weiß jetzt, wonach er gesucht hat: nach seinem Leben. Ein Leben fernab der Büros, Tagungsräume und Hotelbetten. Er will frei sein, reisen, Menschen treffen und Spaß haben. Endlich. Mit 35 Jahren sagt er der Karriere Lebewohl und zieht um die Welt. Immer dabei: sein bester Freund Björn und jede Menge Optimismus. „Ich habe gekündigt und wusste auch, dass ich in dieses Leben nicht mehr zurück will“, sagt er. „Ich habe den Job aufgegeben, die Wohnung in Hamburg, habe die Möbel eingelagert und bin mit Björn einfach los. Ein Jahr wollten wir raus. Das ist jetzt zwei Jahre her“, sagt er, als wenn er es selbst nicht fassen könnte.

Auch die Magdeburgerin Mady Host hat sich auf den Weg gemacht, oder besser gesagt, auf die Socken. Den Studienabschluss noch nicht in der Tasche, pilgert sie schon über den Jakobsweg. Zu Fuß. Mit Rucksack, Zelt und ihrer Freundin Cornelia. Das war 2008.

„Angetrieben worden bin ich durch den puren Entdeckerdrang“, sagt die 31-Jährige. „Ich war neugierig auf die ganze Welt und hatte einfach Bock aufs Rausgehen.“ Und weil die Welt groß ist, zog es sie noch weiter nach Island, Kanada und quer durch Europa. Zum Reisen war ihr jedes Mittel recht: zu Fuß, per Anhalter, mit dem Zug, der Fähre, Übernachtung im Zelt, Hostel oder in der Pilgerherberge. Immer dabei: Freundin Cornelia.

Bis auf eine Reise 2011, als es die quirlige Magdeburgerin erneut auf den Jakobsweg zieht. Diesmal allerdings allein. Eine vierwöchige Tour, 580 Kilometer an der spanischen Küste entlang. Vier Wochen, in denen nicht nur viele Kilometer, sondern auch viele einsame Stunden überwunden werden müssen. „Ich musste für mich herausfinden, was ich eigentlich vom Leben will. Da musste ich allein sein“, sagt sie.

Wobei, wirklich allein war sie nie lange. „Ich traf so viele Pilger aus der ganzen Welt, mit denen ich einige Zeit verbrachte, auf dem Pilgerweg, bei Kaffeepausen oder in den Herbergen. Bis sich unsere Wege wieder trennten.“

Sebastian und Mady. Zwei junge Sachsen-Anhalter, die sich nicht kennen und bis auf ihre Leidenschaft fürs Reisen auch nichts gemeinsam haben. Wobei das „Reisen“ hier tatsächlich in Anführungszeichen gehört, denn Mady und Sebastian geht es nicht darum, regelmäßig irgendwo zu urlauben. Es geht um das Entdecken. Das Entdecken der Welt, der Menschen und vor allem: sich selbst. Seit Hape Kerkeling 2006 über den Jakobsweg pilgerte und seine Erfahrungen in dem Reiseroman „Ich bin dann mal weg“ verkauft hat, scheint es, als würden immer mehr junge Menschen eine Auszeit vom Alltag nehmen wollen.

Der Leipziger Trendforscher Sven Gabor Janszky sieht hierin den Beginn eines Trends. „Das Prinzip: Abi machen, Studium, ein Jahr raus, das ist schon verbreitet. Und das wird auch noch mehr werden.“ Dieser Trend scheint besonders in der Generation Y (Teenager der 90er Jahre) und auch in der nachfolgenden Generation­ verbreitet. Eine Auszeit vom Alltag. Und auch vom Beruf. Durch den zunehmenden Fachkräftemangel, so erklärt es Sven Gabor Janszky, könne sich diese Generation die Auszeiten leisten, weil die Plätze auf dem Arbeitsmarkt bei weitem nicht mehr so umkämpft sind wie in der vorherigen Generation.

„Diese Generation Y führt ein sehr selbstbestimmtes Leben, lässt sich weniger von Autoritäten leiten. Die Generation davor konnte das nicht“, so Janszky. „Die Menschen heute besinnen sich immer mehr auf eine Work-Life-Balance. Und das können sie auch, weil sie keine Existenzängste mehr haben müssen.“ Um ihre Existenz sorgen sich Sebastian und Mady auch nicht. Beide sind gut ausgebildet. Doch weder der studierte GPS-Programmierer und Finanzwirt noch die Sozial- und Gesundheitsjournalistin werden in ihren Berufen weiterarbeiten. Aber es gibt für beide einen neuen Weg. Damit sich nämlich Reisen und Beruf nicht in die Quere kommen, haben beide das Reisen einfach zum Beruf gemacht.

Sebastian hat ein digitales Reisemagazin „JourJour“ gegründet, das kostenlos per App auf dem Smartphone installiert werden kann. Monatlich stellt er hier jeweils ein anderes Land vor, das er natürlich selbst bereist hat. Finanziert werden soll das Magazin über den Anzeigenverkauf. Und wenn das nicht funktioniert? Hat er einen Plan? „Nein“, sagt er überzeugt. „Brauche ich nicht, weil das klappt.“

Und Mady? Auch sie hat aus jeder ihrer Reisen einen Reisebericht verfasst, Kolumnen geschrieben und Bücher veröffentlicht. Seit diesem Jahr hat sie die Verlagsleitung des Traveldiary-Verlages übernommen. „Ich muss nun also zwangsläufig weiterreisen, weil das jetzt auch mein Job ist“, sagt sie zufrieden. In diesem Jahr geht‘s übrigens nach Finnland.

Sebastian ist auch schon wieder unterwegs. Gerade noch in Wien, tourt er in diesem Jahr weiter nach Warschau, Norwegen und London.