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Bauhaus Ein erster Stuhl ohne Hinterbeine

Als Designer der Bauhausschule in den 1920er-Jahren die Zusammenarbeit mit der Industrie suchten, wurden sie in Stendal fündig.

Von Bernd-Volker Brahms 23.02.2019, 00:01

Stendal l Der Freischwinger ist eine kleine Sensation, als dieser 1927 bei einer Werkbundausstellung „Die Wohnung“ in Stuttgart ausgestellt wird. Der niederländische Architekt und Designer Mart Stam (1899-1986) hatte diesen 1926 entworfen und ließ diesen hinterbeinlosen Stuhl, den er Kragstuhl nannte in Stendal von der Firma L&C fertigen. Es war zunächst eine starre Stahlkonstruktion. 1927 entwickelte der spätere Bauhausdirektor von Dessau, Mies van der Rohe (1886-1969), den Stuhl weiter und brachte seinen schwingenden „MR?20“ heraus, der in Stuttgart gezeigt wurde.
Dass der Stuhl in Stendal gefertigt wurde, war kein Zufall. Die Firma L&C Arnold war 1926 ein in Europa führender Stahlrohrmöbelhersteller mit rund 1400 Mitarbeitern, die Gartenmöbel, Stahlrohrbetten, Stühle, Garderoben und Tische produzierten. Die Firma war 1871 im baden-württembergischen Schorndorf gegründet worden. Das heute noch erhaltene und einzig produzierende Ursprungswerk in Stendal wurde 1889 gegründet.
Mitte der 1920er Jahren erweist sich die Nachbarschaft der Stendaler Firma zum Dessauer Bauhaus als glückliche Fügung, wie Laura Müller von der L&C Arnold zur 130-jährigen Firmengeschichte sagt. Im Stendaler Geschäftsgebäude dokumentieren zahlreiche Bilder die Historie, die auch die DDR-Zeit einschloss, als das Werk unter dem Namen VEB Stima produzierte und republikweit bekannt war.
Die Bauhäusler strebten eine Zusammenarbeit mit der Industrie an. L&C Arnold erwies sich als experimentierfreudiges Unternehmen. Neben Mart Stam und Mies van der Rohe gibt es auch eine Zusammenarbeit mit den Gebrüdern Heinz Rasch (1903-1995) und Bodo Rasch (1902-1996) und Marcel Breuer (1902-1981), mit denen weitere Prototypen für Stühle und erfolgreiche Wettbewerbsbeiträge umgesetzt wurden. 1933 entstand eine exklusive Produktion für Marcel Breuer über 36 Modelle im Bauhausstil.
Welch anerkannte Fertigungskunst die Firma seinerzeit entwickelt hatte, zeigt die Tatsache, dass das berühmte Luftschiff „Hindenburg“ 1936 mit Sitzmöbeln und Tischen vorwiegend aus Aluminium ausgestattet wurde. Das größte Luftschiff aller Zeiten ging 1937 beim Landeanflug auf Lakehurst (USA) in Flammen auf. Orginalmöbel des Luftschiffes können noch heute in Stendal und auch im Zeppelinmuseum in Friedrichshafen besichtigt werden.
Während die Stendaler Firma in den 1920er Jahren und auch zu DDR-Zeiten auf Massenproduktion ausgerichtet war, so wird heute in kleinen Stückzahlen und nach Bestellung produziert – vorrangig Bauhaus-Möbel.
Tragischerweise musste das Unternehmen kurz vor dem Jubiläum zu „100 Jahre Bauhaus“ im November 2018 Insolvenz anmelden. „Aber wir produzieren noch“, sagt Geschäftsführer Peter Müller. Bei einer Gläubigerversammlung im Februar bekam er grünes Licht, dass versucht werden soll, dass das Unternehmen in eigener Regie aus der Krise kommt. Mit dem Schwung des Bauhaus-Jahres soll dies gelingen, aber auch mit der Entwicklung neuer Produkte.
„Der gesamte Katalog ist lieferbar“, versichert Müller. 16?Mitarbeiter sind noch beschäftigt, nachdem es zahlreiche Entlassungen gab und eine Auffanggesellschaft gegründet wurde. Durch schwankende Auftragslage und verzögerte Fördermittelauszahlungen sei es zu den Schwierigkeiten gekommen, sagt Müller.
Seit 1994 waren Bauhaus-Klassiker aus dem eigenen Fundus wieder in die Produktion aufgenommen worden – zumeist im hochwertigen Sektor. Das Unternehmen war 1991 an die Muttergesellschaft zurückgeführt worden und ist auch heute noch ein Familienunternehmen.
Im Übrigen gab es wegen des Freischwingerstuhls, der in Stendal seine Geburtsstunde hatte, nach mehrere Prozesse zur Urheberschaft, die Rechtsgeschichte geschrieben haben. Richter vom Deutschen Reichsgericht sahen den Stuhl als eine eigene Schöpfung und sprachen Mart Stam 1932 die künstlerische Urheberschaft an dem kubischen Freischwinger zu.
Die Firma Thonet hatte geklagt und eine rein technische Erfindung gesehen, bei der es keine Urheberrecht gebe. Mies van der Rohe hatte auf seinen „MR?20“ bereits 1926 ein Patent angemeldet. Dieses verteidigte er 1936 erfolgreich in einem Prozess 1936. Die Firma Mauser machte es ihm streitig. Das Gericht bestätigte, dass die Federung des Stuhls als dessen eigene Erfindung gilt.
Das Bauhaus wird 100 Jahre alt. Auf der großen Volksstimme-Themenseite gibt es Geschichten und Termine rund ums Jubiläum und wo Bauhaus den Menschen in Sachsen-Anhalt heute noch begegnet. Themenseite: 100 Jahre Bauhaus