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Bekleidung Als Staßfurt den BH neu erfand

Ein BH-Typ namens „Staßfurter BH“ macht Frauen mit viel Oberweite deutschlandweit glücklich. Viele Frauen schwören darauf.

Von Franziska Richter 16.03.2018, 00:01

Staßfurt l „Oh, ich muss mal den ‚Nippel‘ hochmachen“, sagt die Verkäuferin und flitzt zur Tür. Schon vor der Öffnungszeit steht eine Kundin vor dem kleinen Fabrikshop am Schäfereiberg in Staßfurt. Verkäuferin Martina Finger, mit Maßband um den Schultern und einem abmessenden Blick über die Brille, grinst verschmitzt. Klar - in diesem Laden geht es öfter auch mal um Nippel. Die meisten Frauen sind übrigens entgegen allen Klischees nicht daran interessiert, diese durchs T-Shirt schauen zu lassen, sobald es kalt wird.

„Zweimal das klassische Modell in meiner Größe bitte“, sagt die ältere Kundin. Die große Oberweite hatte sie schon immer, erzählt sie, und sie findet nichts in den gängigen Bekleidungsgeschäften in ihrer Größe. Martina Finger, die gute Seele dieses Geschäfts, kennt die Maße ihrer Kundinnen in- und auswendig und packt das Gewünschte schon ein.

Immerhin ist sie seit 1993 dabei. Damals war das Unternehmen „Format“ in Staßfurt noch ein Riesenbetrieb mit rund 100 Mitarbeitern, mit Näherinnen und eigener Designerin. Es gab Zeiten, da haben 500 Mitarbeiter in der Fabrik gearbeitet, da war das Fernsehen da und Models liefen über das Fabrikgelände. Heute sind nur Martina Finger und eine weitere Mitarbeiterin übrig. „Format“ ist als Außenlager eines Unterwäsche-Produzenten im Vogtland jetzt endlich in ruhiges Fahrwasser gekommen, nachdem der Staßfurter BH-Betrieb nach der Wende durch viele Übernahmen und Insolvenzen kaputtgespielt wurde.

Schnell stopft die Kundin die beiden BHs in ihre Handtasche. „Anprobieren brauch ich nicht, ich kenne meine Größe“, sagt sie und wandert schnurstracks aus dem Laden. Einkaufsbummel ganz pragmatisch.

Das war er übrigens, den die Kundin da gerade mitgenommen hat. Der BH, der unter dem Namen „Staßfurter BH“ berühmt geworden ist. „Eigentlich ist das nicht der offizielle Name“, erklärt Martina Finger, „doch er hat sich unter diesem Namen eingebürgert.“ Die eigentliche Bezeichnung ist nur eine Ziffernreihe.

Der „Staßfurter BH“ ist der BH für große und sehr große und - wirklich - riesige Brüste. In den 70er Jahren ist er entwickelt worden, erinnert sich Martina Finger. Damals schon im Hinblick auf extreme Oberweiten. „Wir hatten früher eine eigene Designerin, die im Werk saß“, erzählt Martina Finger. „Sie hat manche Näherin und Mitarbeiterin zum Maßnehmen oder Anprobieren gebeten. Das war gut, den BH an der echten Frau zu gestalten.“

Nun etwas „BH-Kunde“: Heute gibt es den „Staßfurter BH“ in den Größen A bis I. Das ist die Körbchengröße. Früher ging diese nur bis zur Doppel-D. Die BHs reichen bis zu einem Brustumfang von 148 Zentimetern. „Das nennt man die Brusttiefe“, erklärt Martina Finger und umrandet eine gedachte Brust an ihrer weitesten Stelle.

Das darunter, bevor die Brust anfängt, ist die „Unterbrust“. Also der Körperumfang der Frau an der Stelle. Diese variiert nun auch wieder, je nach Körperbau der Frau - kleine, zierliche Frauen, schlanke, starke, dicke und so weiter. Das ist die Ziffer, die vor der Körbchen-Größe angegeben wird - also 75 bis 120 Zentimeter.

Martina Finger hat mit ihrem Maßband schon viele Kundinnen ausgemessen und den richtigen BH empfohlen. „Manche behauptet steif und fest, sie hätte diese und jene Größe. Wenn ich dann mal nachmesse, hat sie doch eine andere Größe und fühlt sich auf einmal viel wohler.“

Übrigens, dicke Frau heißt nicht gleich dicker Busen. Jede Frau ist einzigartig. In den Fabrikshop kommen auch einige wenige Kundinnen, die sich ihre Brüste tatsächlich vergrößern lassen haben, dann aber noch im „normalen“ Maß.

Die meisten Kundinnen mit riesiger Oberweite aber werden wohl eher schon mal an eine Brustverkleinerung gedacht haben. Da ist der Busen wahrlich eine Last. Von Rückenproblemen kann die Verkäuferin Romane erzählen, aber auch von Frauen, die mit BH schlafen müssen, weil sonst alles verrutscht. Schaut man sich einen BH in der Größe I mal richtig an, wird einem klar, was für eine Last es da zu tragen gilt. Gleich wird es ein bisschen nachdenklich im Laden: Viele Frauen gehen davon aus, dass ihre Krankenkasse eine Brustverkleinerung - die gehen ab 5000 Euro los - nicht bezahlt, berichtet die Verkäuferin aus ihrer Erfahrung.

Während die Moritz Hendel & Söhne GmbH, die jetzt Eigentümer der Staßfurter Marke „Format“ ist, auch modische und Fashion-Linien führt, ist der „Staßfurter BH“ schlicht gehalten. Es gibt ihn in klassischer und moderner Variante. Junge Frauen finden ihren BH eher bei den modernen Linien von Format und Dacapo. Im Trend sind bei der Jugend jetzt übrigens BH-Shirts, wo der BH gleich im dünnen Sommer-Top mit drin ist. Die Merkmale des „Staßfurter BHs“: Er hat keinen Bügel, ist somit bequemer. Bügel können, wenn sie nicht richtig passen, auf die Rippen drücken und Druckstellen verursachen.

Dafür wird der Busen beim „Staßfurter BH“ mit einem verstärkten Körbchen abgefangen. Im unteren Teil des Körbchens befindet sich eine Einlage, die noch einmal stützt. Die Träger des „Staßfurter BHs“ sind breiter. Das verhindert, dass sich die Träger in die Schultern einschneiden, was zu Druckstellen führen kann, aber auch zu Kopfschmerzen, weil Nerven im Nacken abgedrückt werden.

Bis heute sind es die großen Größen, die beim „Staßfurter BH“ am meisten verkauft werden. Der Hersteller mit der Fabrik im Vogtland beliefert um die 7000 Einzelhändler. Im Staßfurter Shop werden am häufigsten die Größen D bis G gewünscht.

Auch für Männer eignet sich der „Staßfurter BH“ wohl am besten. Denn zur Faschingszeit verirrten sich auch schon Herren in die Umkleidekabinen, die einen großen BH brauchten, um ihn mit Schaumstoff auszustopfen.

Dennoch gehen die großen BHs aus Staßfurt im mittleren Preissegment eher in den Fachhandel, sprich in kleine Dessous-Geschäfte und werden kaum ins Sortiment großer Bekleidungsketten genommen. „Meine Kundinnen finden wirklich kaum was in anderen Läden“, sagt Martina Finger. Die Damen kommen sogar aus Leipzig oder Braunschweig nach Staßfurt.

Den Frauen mit viel Oberweite etwas von ihrer Last zu nehmen und sie glücklich zu machen, ist das Schönste für Martina Finger: „Die Kundinnen freuen sich einfach, wenn sie endlich einen BH finden, der passt.“