Bürokratie Schranken

Unser Gastautor aus London berichtet über sein neues Leben in Sachsen-Anhalt. In Deutschland spürt er mehr Vertrauen als in Großbritannien.

Von Paul Kilbey 06.08.2017, 04:00

Magdeburg l Mein Flieger aus London kam verspätet an. Den Bus von Berlin-Tegel ins Zentrum hatte ich also schon mal verpasst. Ich schleppte meinen schwer bepackten Koffer - und zerbrach mir den Kopf. Wird meine Fahrkarte auch im nächsten Bus gültig sein oder werde ich draufzahlen müssen? Was, wenn ich nicht das passende Kleingeld dabei habe? Britische Busfahrer hassen es, Wechselgeld herauszugeben. Ich malte mir aus, wie ich beim Fahrer in meinem Portemonnaie kramen würde. Dahinter eine immer länger werdende Schlange von ungeduldigen und genervten Fahrgästen …

Doch dann lief alles anders. Der Bus kam, ich zeigte dem Fahrer meine Fahrkarte und er schaute noch nicht einmal richtig hin. Er nickte mir zu und ließ mich einsteigen. Ich wette, es hätte genauso gut ein ungültiger Fahrschein sein können. Es schien ihm egal zu sein. Ich betrat den nahezu leeren Bus, fand ein passendes Plätzchen für meinen Koffer, setzte mich und atmete erleichtert durch. Ehe ich mich versah, saß ich schon im Zug nach Magdeburg. Ein Kinderspiel.

In London funktioniert der Nahverkehr anders. Zunächst einmal ist es fast unmöglich, Bus oder Bahn ohne gültigen Fahrschein zu nutzen - alles ist automatisch geregelt. Wer die U-Bahn nehmen möchte, muss zunächst eine elektronische Schranke überwinden. Durch kommt nur, wer bezahlen kann. Statt Vertrauen muss es hier scheinbar eine physische Barriere geben, damit das System nicht missbraucht wird.

Gibt es in Deutschland weniger Schranken? Wird den Menschen hier mehr vertraut? Bei meinem ersten Supermarktbesuch in Magdeburg stellte ich mir diese Frage erneut. Kurz nach dem Bezahlen fand ich mich mit meinem Einkaufswagen plötzlich mitten auf der Einkaufsstraße wieder. Für einen Augenblick geriet ich in Panik. Oh je! Es sieht so aus, als würde ich den Einkaufswagen klauen. Andererseits: Wenn ich wollte, könnte ich wirklich mit dem Wagen abhauen… Natürlich würde ich das nie tun. Ich bemerkte, dass man den Einkaufswagen am ein paar Meter entfernten Eingang des Supermarktes zurückgeben musste.

Dass einem hier so viel Vertrauen entgegengebracht wird, überraschte mich als Londoner. Wir Briten denken eigentlich, dass die Deutschen ihre Regeln lieben. Umso erstaunter war ich darüber, wie entspannt man hier in vielen Alltagsdingen ist. Ein Beispiel: Ich musste mich in der Stadt anmelden. Klar ist es nicht einfach, das richtige Amt und die passende Krankenversicherung zu finden oder auch nur eine deutsche Handy-Nummer zu bekommen. Doch so viele Schritte auch erforderlich waren: Alles ging erstaunlich entspannt über die Bühne.

Und das Amüsante war: Die Sachbearbeiter sind über die komplizierten Abläufe mitunter sogar selbst verdutzt. Den meisten ging es gar nicht mal darum, jede Zeile auszufüllen. Viel wichtiger war es ihnen, eine passende Lösung für mich zu finden. Bei uns in Großbritannien ist die Bürokratie – genau wie die Schranken der Londoner U-Bahn – weitgehend automatisiert. Und wenngleich weniger komplex, ist sie leider auch viel schlechter organisiert.

Und was die Schranken betrifft: Es scheint, als sei Großbritannien bemüht, immer mehr davon aufzubauen. Nicht nur zwischen Pendlern und ihren Reisezielen, sondern auch zwischen dem Land und seinen europäischen Freunden.

Ich bin erleichtert darüber, dass ich in ein Land gezogen bin, das Menschen vertraut. Und ich bin froh, diesen Schritt gegangen zu sein, solange ich noch das Recht darauf habe. Denn für mich und für viele andere Briten, die im europäischen Ausland leben, ist noch ungewiss, was die Zukunft bringt.

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