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Chor Mit Taktstock in der ersten Reihe

Am Freitag beginnt das Deutsche Chorfestival in Magdeburg. Ein 91-jähriger Chor-Fan aus Schönebeck erklärt seine Leidenschaft.

Von Elisa Sowieja 28.04.2017, 01:01

Schönebeck l Einmal pro Konzert darf Rudi Banse dirigieren. Immer beim selben Seemannslied. Mit einer ausrangierten Fliegenklatsche. Aus der hat er einen Taktstock gebastelt, an dem Spielgeld klebt. Extra für den Refrain: „Keine Frau ist so schön wie die Freiheit, und kein Mann ist so schön wie sein Geld“. Ehrensache, dass die Schönebecker Shanty-Sänger auf sein Kommando trällern. Denn Banse ist Ehrenmitglied – nicht nur bei ihnen, sondern auch im eng verbandelten Handwerker-männerchor der Stadt. Sein Verdienst: Mehr als 30 Jahre lang sang er selbst bei den Handwerkern, verpasste fast nie eine Probe. Und obwohl er vor fünf Jahren aufgehört hat, ist er bis heute bei fast jedem Auftritt der beiden Chöre dabei. Von der ersten Reihe aus klatscht und brummt er voller Elan mit.

Wer mal mit ihm am Tisch sitzt, kann sich das mit dem Elan bildlich vorstellen. Eigentlich nur kurz nach seinem früheren Beruf gefragt, legt der Rentner los: „Passen Se uff, jetzt kommt mein Lebenslauf.“ Dann erzählt er von seiner Tischlerlehre, dem Job als Fußbodenleger, vor allem aber von der Zeit, in der er Gaststätten leitete. Im Schönebecker Stadtpark zum Beispiel veranstaltete er einfach jeden Tag eine Tanzfete.

Am besten geht‘s Rudi Banse, wenn was los ist. Das zieht sich durch all seine Erzählungen – auch die über ihn und die Chöre: Wie er damals zum Singen kam? Bei einer Feier, als ein paar Leute meinten: „Rudi, komm doch mal zur Probe.“ Wieso er Ja sagte? „Weil ich ein lustiger Mensch bin!“

Sicher, das Singen macht ihm auch Spaß. Aber an Fragen dazu hält er sich nicht allzu lange auf. Stimmlage: erster Bass, Stimmqualität: Durchschnitt, Lieblingslied: „Er ist ein wackerer Kumpan“ – damit wäre das Wesentliche gesagt. Jetzt aber zurück zur Chorfahrt neulich in den Harz, zu den Bierchen, die man früher immer nach der Probe trank, zum Foto mit der federbeschmückten Bauchtänzerin bei einem Auftritt für Senioren. Das sind die Dinge, die Rudi Banse auch noch mit 91 zum leidenschaftlichen Fan machen. Einem, der seinen Chören jedes Jahr ein paar Hundert Euro spendet.

In den jüngeren Generationen springt der Funke hingegen immer seltener über. Die rund 370 Laien-Gruppen im Chorverband Sachsen-Anhalt zählen heute 10 000 Sänger, vor knapp 15 Jahren waren es noch etwa 5000 mehr, berichtet Vorsitzender Reiner Schomburg. Eine Hauptursache sieht er in der Altersstruktur. Mehr als 60 Prozent, schätzt er, sind älter als 60. Hinzu kommt: Besonders im ländlichen Raum ziehen junge Leute oft weg oder pendeln, sodass keine Zeit für wöchentliche Proben bleibt.

Das Nachwuchsproblem kennen auch die Schönebecker. Von den 19 Mitgliedern im Handwerkermännerchor sind 18 über 60. Und es ist nicht so, dass man sich nicht bemühen würde: Ein Volksstimme-Kollege aus der Lokalredaktion, 37, konnte sich bei dienstlichen Besuchen schon mehrfach nur mit Mühe der Rekrutierungs-Avancen erwehren.

Warum die jungen Leute früher leichter zu ködern waren, dafür hat Rudi Banse eine simple Erklärung: „Damals hatten wir keinen Fernseher.“ Er hat heute sogar einen recht großen. Wichtiger ist ihm aber die Liste mit Auftritten und Feiern seiner Chöre, die am Küchenschrank hängt. Der nächste ist am 13. Mai, auf dem Marktplatz. Da kommt er wieder vorbei. Übrigens mit dem Rad, seinen Taktstock klemmt er auf den Gepäckträger.