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Coronavirus Wenn nichts mehr ist, wie es war

Von Alltagshelden. Existenzängsten und Optimisten in Zeiten des Coronavirus.

18.03.2020, 05:37

Magdeburg l Ob strauchelnde Kleinunternehmer, ratlose Alleinerziehende oder überlastete Pflegekräfte: Auch viele Sachsen-Anhalter bringt das Coronavirus derzeit an die Belastungsgrenze - aus verschiedenen Gründen. Alle eint aber eine Frage: Wie soll der eigene Alltag funktionieren, wenn nichts mehr so ist, wie es war? Von Alltagshelden und Existenzängsten.
Michaela Spiegel aus Burg weiß heute ganz gut, wie sich die gedankliche Achterbahn anfühlt. Will man ihr Leben in den vergangenen zwei Jahren beschreiben, war da erst die Ungewissheit. Soll ich oder soll ich nicht? Einsteigen in den Waggon "Selbstständigkeit". Wie viele Mutige sagte Spiegel "Ja" zum Abenteuer und machte sich selbstständig mit "Wirbelwind Fotografie". "Damit hat sich ein Traum erfüllt."
Spezialisiert auf Kita- und Schul-Shootings mit besonderer Leidenschaft für Babybauch-Fotografie, dauerte es für Spiegel eine Weile, bis es gut lief. Das zog sich in etwa so wie der Anstieg mit der Achterbahn. Viel Unsicherheit. Aber auch Vorfreude. "Und dann: Schon 2020, im zweiten Jahr also, war ich schnell komplett ausgebucht" erzählt Spiegel. Im Januar war dann irgendwie das Gefühl da, ja, selbstständig als Fotografin, das funktioniert. Die kurze Mutwelle, wenn das Adrenalin durch den Körper schießt - bevor es dann rasant nach unten geht. Wegen des Coronavirus.
Die damit verbundenen Schulschließungen bedeuten für die Kreative nun: Bangen um die Existenz. Drei der vier Kita-Shootings in den kommenden Wochen wurden verschoben, eins fällt komplett weg, auch weil Spiegel keine Terminkapazitäten mehr fürs Frühjahr hat und nicht verschieben kann. Was in vier Wochen ist, weiß immerhin niemand. "Ich verstehe das natürlich", sagt Spiegel. "Aber wenn die Schulschließungen länger dauern sollten, mehrere Monate, wird es im Herbst eng. Noch haben wir Ersparnisse, aber nicht mehr lange." Über alternative Wege, um Einkommen zu generieren, hat Spiegel nachgedacht, aber: "Ich könnte was mit Bildbearbeitung machen, aber niemand erteilt aktuell Aufträge." Und außerdem: Wer versorgt dann ihre Kinder? Denn: Ihr Mann liegt seit Längerem krank zu Hause, kann sich nicht kümmern.
"Keiner weiß, wie es weitergehen soll", sagt Spiegel und berichtet von Fotografen-Foren, die derzeit übersät sind mit Existenzängsten. Kommt ein Kredit in Frage? "Auf keinen Fall, auch den müssten wir zurückzahlen." Spiegel hofft stattdessen, dass sich Bund und Länder etwas einfallen lassen, "das muss vor allem unbürokratisch vonstatten gehen". Trotz allem verfällt die Mutter nicht in Panik, da ist keine Wut in ihrer Stimme. Eher Verständnis. "Ich finde alle Maßnahmen richtig, es müsste noch viel weitreichender sein. Auch Restaurants und Friseurläden müssten jetzt zumachen. Es nutzt nichts. Wir müssen alle unseren Teil beitragen."
Das weiß vor allem Edeka-Filialleiterin Peggy Hartmann und bemüht sich um Gelassenheit. Obwohl um sie herum die Situation inzwischen sehr angespannt ist. "Wir kriegen nicht mehr alles an Ware, weil der Großhandel und auch die Industrie überfordert sind. Es ist durchwachsen, schwierig", sagt die Chefin von 80 Mitarbeitern. Sie leitet zwei Märkte, einen in Haldensleben, einen weiteren in Havelberg.  Die Liste der Artikel, die in den Regalen fehlen, wird länger: Kein Toilettenpapier, keine Nudeln, keine Konserven. "Wir bestellen täglich Ware, wir geben unser Bestes", seufzt sie und ergänzt: "Toi, toi, toi sind noch alle Mitarbeiter da." Es wird regelmäßig desinfiziert, gerade auch an den Kassen. Dass jetzt überlegt wird, Lebensmittelgeschäfte vielleicht auch sonntags zu öffnen, sieht sie kritisch. "Eine Verkäuferin muss sich auch mal ausruhen. Schließlich ist ein ausgelaugter Körper ja auch anfälliger für Ansteckung", sagt Hartmann.
Wenn Robert Taurat aus Magdeburg über das Coronavirus und dessen Auswirkungen auf sein Leben spricht, ist da ganz viel Gelassenheit. Immer wieder sagt er: "Dafür bin ich dankbar." Zum Beispiel für seine Chefin. Taurat arbeitet bei einem ambulanten Pflegedienst in Magdeburg "und die Unterstützung ist großartig".
Das sei auch vorher so gewesen. Aber in Zeiten, in denen alles anders ist, ist halt auch nichts mehr selbstverständlich. Taurat ist alleinerziehend und hat einen schwerbehinderten Sohn. Der Zehnjährige wird um 6.30 Uhr jeden Tag vom Fahrdienst abgeholt und in der Hugo-Kükelhaus-Schule betreut. Notbetreuung heißt das in diesen Tagen. "Aber ganz ehrlich: Eigentlich ist alles wie immer, nur, dass eben nur zwei oder drei Kinder da sind."
Dank seiner Chefin ist Taurat jetzt aber flexibler, kann mal früher gehen, seine Arbeitszeiten etwas anpassen, wenn möglich. Dass ab heute die Spielplätze auch nicht mehr betreten werden dürfen, "ist schon ein Problem, weil mein Sohn viel Energie hat und raus muss". Aber Taurat ist keiner, der sich beschwert. Das kostet Energie, die er an anderer Stelle braucht. "Dann müssen wir halt kreativ werden und gehen beide zum Beispiel an der Elbe spazieren", sagt er. Um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, hat Sachsen-Anhalts Regierung gestern eine Verordnung erlassen, die ab heute greift. Unter anderem dürfen auch Kinderspielplätze nicht weiter genutzt werden. Vorerst bis zum 20. April. In Kombination mit zahlreichen weiteren Einschränkungen kommt das öffentliche Leben nun also auch in der Landeshauptstadt fast komplett zum Erliegen. Taurat muss dennoch jeden Tag das Haus verlassen, denn in seinem Job wird er gebraucht. Bis zu zehn Senioren besucht er täglich, pflegt sie und hört ihnen zu. "Viele wollen jetzt natürlich über Corona reden", sagt er. Angst hätte er aber nicht wahrgenommen bei seinen Patienten. Die überwiegt viel eher bei ihm, wenn er darüber nachdenkt, was auf ihn und seine Kollegen zukommen könnte, sollte die Ausgangssperre kommen. Schon bei Demos fällt es den mobilen Altenpflegern oft schwer, Haushalte zu erreichen. "Wir haben keinen Ausweis, nichts, womit wir schnell zeigen können: Wir müssen durch, wir haben Patienten."
Viel werde in diesen Tagen über die Versorgung in Altenheimen und Krankenhäusern geredet, "aber über die ambulante Pflege höre ich fast nichts, dabei müssen besonders wir mobil sein, brauchen Anweisungen, wie wir uns zu verhalten haben". Taurats Chefin telefoniere seit Tagen mit vielen Ämtern, um Ausweise oder Ähnliches zu erhalten. Noch gibt es kein Ergebnis. "Aber das wird schon alles werden, wir sollten alle ein bisschen positiver denken." Auch Patrick Rode ist, so macht es zumindest den Eindruck, kein Pessimist. Vielmehr hat er in den vergangenen zwei Wochen seinen Urlaub in Thailand als Backpacker (Rucksack-Tourist). genossen. Insel-Hopping auf den thailändischen Inseln im Osten des Landes, viel Sonne, gutes Essen. Doch vor drei Tagen hat sich was verändert. "Die Ungewissheit macht meinen Urlaub aktuell eher angespannt", sagt der 28-Jährige aus Oschersleben. "Ich habe von vielen Reisenden erfahren, dass sie an der Grenze in Vietnam fast alle in Quarantäne stecken und die Bedingungen sind nicht einladend."
Am Sonntag soll eigentlich sein Flieger von Hanoi (Vietnam) nach Berlin abheben. Ab 23. März soll er als Erzieher wieder im Kinderheim arbeiten. "Natürlich geht dort gerade alles drunter und drüber", sagt Rode. Er stehe in engem Kontakt mit seinen Kollegen, die unterbesetzt und an der Belastungsgrenze sind. Rode steht in Verbindung mit der Deutschen Botschaft, zahlreichen Behörden in Thailand und Vietnam. Dort wollte er noch eine Woche reisen, doch an der Grenze wies man ihn ab. Denn: Seit Sonntag dürfen keine Bürger aus europäischen Ländern des Schengenraums und aus Großbritannien mehr nach Vietnam einreisen.
Auch der Transit ist nicht möglich. "Ich habe von vielen Reisenden erfahren, dass sie an der Grenze in Vietnam fast alle in Quarantäne stecken und die Bedingungen sind nicht einladend." Also hat sich Rode entschieden in Thailand zu bleiben und hofft, seinen Flug umbuchen zu können. Aber hier wartet das nächste Problem: Die Airlines sind überlastet, alle Leitungen sind belegt, Direktflüge aus Bangkok gibt es nicht mehr. Wenige andere Optionen kann Rode nicht nutzen, "da kosten die Flüge weit über 3000 Euro". Täglich verschärfen weitere Länder ihre Quarantänemaßnahmen. "Ich brauche einen neuen Flug, aber keine Ahnung, wie das aktuell funktionieren soll." Derzeit warte er also in Bangkok auf Informationen der Botschaft und von seiner Airline. Seine Freunde hatten Glück, konnten vor drei Tagen noch über Russland ausfliegen. Rode bleibt nichts anderes übrig als sich in Geduld zu üben. "Meine Familie und Freunde halten mich auf dem Laufenden, wie es mit dem Coronavirus in Deutschland weitergeht." Er will so schnell wie möglich wieder arbeiten, vielmehr aber noch will er endlich Klarheit. Selbst, wenn das am Ende heißt, dass er vorerst in Thailand bleiben muss.
Auch bei Jennifer Döhring hat sich in den letzten Tagen einiges geändert. Sie ist Mutter von zwei Söhnen und geht selbst zur Schule. Die 41-Jährige macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Ein Bildungsgang nach dem Krankenpflegegesetz also. Damit ist sie, ebenso wie Auszubildende nach dem Pflegeberufe- und Altenpflegegesetz, systemrelevant. Oder einfach ausgedrückt: Verdammt wichtig, um unser Gesundheitssystem am Laufen zu halten. Immer. Aber besonders in diesen Tagen. Genauso wie ihr Mann, der als Krankenpfleger ebenfalls im Klinikum in den Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg arbeitet. "Es ist schon gut zu tun, aber das ist alles auszuhalten. Betten werden freigehalten für mögliche Corona-Patienten", sagt Döhring.
Eigentlich würde jetzt Theorie anstehen, aber sie wird im Klinikum gebraucht. Also arbeitet sie wie ihr Mann ab Donnerstag im Schichtdienst auf Station. "Zum Glück kennen wir uns alle gut auf Station, da hilft jeder jedem, so dass wir das mit den Schichten gut abstimmen können." Die Kinder-Notbetreuung wollen beide möglichst vermeiden, das erfordert viel Planung. Ist Döhring zu Hause, stehen vor allem Hausaufgaben an. Für den Achtjährigen, der bereits am Wochenende Aufgaben von der Grundschule am Pechauer Platz erhielt. Und für die zwölfjährige Tocher, die die Thomas-Mann-Schule besucht. "Da läuft es wirklich super", erzählt Döhring. Aufgaben werden klassenweise auf der Webseite der Schule bereitgestellt. "In kürzester Zeit wurde da seitens der Schulen vieles organisiert." Dass ab heute die Spielplätze nicht mehr besucht werden dürfen, ist für sie kein so großes Thema. "Hausaufgaben, malen, TV gucken, es gibt genug zu tun."
Auch Döhring will nicht jammern über die Situation. Klar, der Alltag sei ein anderer, und ja, die Pflegekräfte sind wichtig in diesen Tagen. "Aber vergessen wir doch bitte nicht alle anderen Berufsgruppen, zum Beispiel Apotheker oder Verkäufer."
Und Reinigungskräfte. Zu dieser Berufsgruppe gehört Christina Zander. Sie arbeitet seit zwei Jahren im Altmark-Klinikum Gardelegen und ist alleinerziehend. Am Montag erkundigte sich die 36-Jährige, wie es mit der Notbetreuung für ihre zehnjährige Tochter aussieht. "Die Mitarbeiterin der Stadt antwortete mir, dass ich, als Reinigungskraft kein Anrecht auf eine Betreuung hätte, da diese nur für Kinder von Pflegepersonal und Ärzten vorgesehen wäre", sagt Zander. Wut. "Alle sprechen über Hygienevorschriften, aber ist Arbeit einer Reinigungskraft so wenig wert?"
Zander musste improvisieren. Ihr Abreitgeber half aus, gewährt ihr nun bezahlte Überbrückungstage, die sie dann nimmt, wenn die Oma nicht einspringen kann. "Dann habe ich erstmal bis nach Ostern Urlaub und hoffe, dass sich die Lage bis dahin entspannt hat."
Wir suchen Alltagshelden, Menschen, die in diesen Tagen Großartiges leisten, damit das öffentliche Leben eingeschränkt weiter funktionieren kann. Wenn Sie von den Auswirkungen des Coronavirus auf Ihren Alltag berichten wollen, freut sich unsere Autorin über eine Nachricht an: maria.kurth@volksstimme.de