1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Entwicklung: "Fingerspiele statt Gehirnjogging"

Psychiater Manfred Spitzer über kindliche Gehirnentwicklung zwischen Malbuch, Grammatik und Computern. Von Andreas Stein Entwicklung: "Fingerspiele statt Gehirnjogging"

05.05.2012, 03:19

"Das menschliche Gehirn ist ein paradoxer Schuhkarton - je mehr drin ist, desto mehr passt rein", sagt Hirnforscher Manfred Spitzer. Eltern und Erzieher sollten Kinder deshalb aktiv mit Spielen, Musik und Bewegung fördern, damit sich deren Gehirn gut entwickelt - und sie möglichst von der Mattscheibe oder Computern fernhalten.

Magdeburg l "Computer sind nicht schlecht - ich sitze auch jeden Tag stundenlang vor einem - aber im Kindergarten haben sie nichts zu suchen", sagt Manfred Spitzer, Deutschlands wohl bekanntester und zugleich umstrittenster Hirnforscher. 700 Erzieher aus Krippen, Kindergärten und Horten, Grundschul- und Gymnasiallehrer, Logopäden und auch eine Handvoll Eltern aus mehreren Bundesländern sind am Donnerstagnachmittag ins Magdeburger AMO Kultur- und Kongresshaus gekommen, um von ihm mehr über kindliche Gehirnentwicklung zu lernen.

Spitzer ist wortgewandt, witzig, punktet mit leicht verständlich erklärten Sachverhalten - und provoziert mit Genuss seine Kritiker: "Kinder werden durch digitale Medien mit Macht verblödet", ruft der Professor ins Plenum. "Die Meinung ist vielen unbequem, aber ich habe Recht." Groß angelegte Studien in den USA, bei denen Tausende Kinder mit Laptops ausgestattet und untersucht worden sind, hätten ergeben, dass Computer in Kitas und Grundschulen nichts bringen, sondern im Gegenteil, schaden. "Kinder, die sich die Welt per Mausklick erschließen, sind erwiesenermaßen langsamer", sagt Spitzer.

Aber warum?

Das hänge mit der Art zusammen, wie sich unser Gehirn entwickelt und lernt. Anders als Tiere können wir Menschen zwar nicht gleich nach der Geburt aufstehen und "loslegen", kommen am Ende aber mit unserer Gehirnleistung viel weiter. Der Trick: Unser Gehirn lernt erst Einfaches und baut darauf Komplizierteres auf. Als Beispiel nennt Spitzer die Sprache: Babys nähmen zuerst Frequenzen wahr, formten später Laute, dann Silben, daraus Wörter und schließlich Sätze. Mit sieben Monaten könnten sie bereits grammatikalische Muster erkennen. Das alles funktioniere mit einer Art "Try-and-Error"-Verfahren. "Das Gehirn ist keine Festplatte, kein Kassettenrekorder, sondern bringt sich selbst alles bei. Und das ist gut so", sagt Spitzer.

"Lernen ist wie Golf. Mit großen Schritten geht es in die richtige Richtung, mit kleinen zum Ziel."

Wenn ein Kind zum Beispiel laufen lernt, beweist es eine unheimliche Geduld. Es zieht sich wochenlang an Stühlen und Tischbeinen hoch und plumpst jedes Mal wieder auf den Hintern. Aber keins sagt: "Das mit der Lauferei, das schmeiße ich jetzt hin." Das Gehirn schickt geduldig bei jedem Versuch andere Impulse in die Muskeln und verstellt die "Einstellung" jedes Mal nur ein bisschen.

Erfolgreiche Justierungen werden beibehalten, und so nähert sich das Kind dem Ziel immer mehr an - bis es schließlich steht. "Es lernt quasi von Fall zu Fall - und das auch bei allen anderen Dingen", so Manfred Spitzer. Jede Erfahrung hinterlässt eine bleibende Verbindung im Gehirn - und ist diese "Spur" erst mal eingefahren, kommt man nicht mehr so leicht heraus. In der Kindheit ändern sich die Verbindungen noch besonders stark und schnell, darum sind kleine Kinder zum Beispiel so gut im Spiel Memory.

Es ist also wichtig, Kindern bereits in der Krippe und im Kindergarten so viele Erfahrungen zu ermöglichen, wie es geht. Hauptsache ist: Sie sind aktiv. Beim Anschauen von Trickfilmen oder Sitzen am Computer rühre sich erwiesenermaßen kaum etwas im Gehirn. Beim Singen aber, da feuern die Synapsen nur so. Das Gehirn ruft nicht nur Melodie und Text ab und setzt sie über die Stimme um, die Kinder müssen auch lernen, gemeinsam zu singen, aufeinander zu hören und sich dabei zu kontrollieren - am besten mit Liedern wie "Drei Chinesen mit dem Kontrabass", wo auch noch bewusst die üblichen Sprachregeln auf den Kopf gestellt werden.

"Lernen hat viel mit guter Laune und Spaß zu tun und nicht mit Angst oder Druck. Das prägt die Kinder auch für später", erklärt Spitzer. Deshalb sollten Erzieher darauf achten, dass Kinder Dinge mit Lust tun und zu Ende bringen - also ein Lied komplett singen oder ein Bild fertigmalen. Statt Playstation oder "Gehirnjogging" am Nintendo DS sollten sich Kinder lieber an altbekannten Fingerspielen versuchen. "Mit den Fingern lernen wir zählen. Ab der 6 brauchen wir beide Hände, und weil sie von unterschiedlichen Hirnhälften gesteuert werden, entstehen dabei reichlich neue Verbindungen."

"Es ist ein Skandal, dass Eltern für die Betreuung ihrer Kinder Geld zahlen müssen."

Bei Experimenten mit deutschen und chinesischen Studenten stellte sich heraus, dass die Chinesen schneller rechnen können, weil sie mit den Händen anders zählen und über ihre Schrift ihren "Zeichendecoder" besser trainiert haben. Darum sollten Kinder ihr Gehirn so viel trainieren wie möglich, ist Manfred Spitzer überzeugt. "Wenn mit 20 nichts im Kopf drin ist, geht auch nichts mehr rein." Und je mehr Medien bis dahin konsumiert wurden, desto schlechter sei das Gehirn entwickelt - und "das ist nicht meine Meinung, sondern wissenschaftlich bewiesen."

Von daher ist es für Spitzer ein "Skandal, dass Arbeitslose für Millionen von Euro als Gabelstaplerfahrer und an PCs geschult werden und Eltern gleichzeitig für die Kinderbetreuung Geld zahlen müssen. Denn schon in der Kita entscheide sich, wie lernfähig Menschen später noch sind - was Spitzer wieder zum eingangs erwähnten Schuhkarton führt. Lernen, sagt er, ist wie Golfspielen: Erst geht es mit großen Schlägen in die richtige Richtung, dann mit kleinen bis zum Ziel.

"Sie haben die wichtigste Funktion in der Bildung der nächsten Generation", gibt er den applaudierenden Pädagogen mit auf den Weg. Und bittet darum, auch Eltern zu erzählen, was sie an diesem Tag gelernt haben.