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Erntezeit Zuckerrübe nach der Quote

Bauern dürfen seit kurzem so viele Rüben anbauen wie sie wollen, erhalten aber keine garantierten Mindestpreise mehr.

Von Alexander Walter 25.10.2017, 01:01

Klein Wanzleben l Fünf Meter über dem Boden steht Harm-Henning Wolters mit weißem Helm auf einer Plattform. Neben ihm rumpelt es. Tausende erdbraune Klumpen ziehen auf einem Förderband vorbei. Es sind Zuckerrüben. Ihr unsichtbares Ziel liegt in einem Komplex über dem Boden, der wie große Wäschetrommeln wirkt. Im Hintergrund die Hallen einer Fabrik. Schornsteine speien weiße Wolken in den herbstgrauen Himmel.

Hinter diesen Fassaden wird aus den braunen Früchten also kristallweißer Zucker. „Jetzt steht sie wieder unter Dampf“, ruft Wolters über den Lärm hinweg und blickt zufrieden hinüber.

Seit Anfang September ist der Mann in seinem Element. Der 36-Jährige leitet seit Jahren das Rübenbüro der Zuckerfabrik der Nordzucker AG im Bördeort Klein Wanzleben. Anbauberatung, Rübenbeschaffung, Abrechnung mit den Bauern – für all das ist der Niedersachse zuständig.

Vier Wochen nach Saisonbeginn, herrscht auf dem Gelände mit seinen 150 Mitarbeitern Hochbetrieb. Täglich kommen bis zu 900 Lkw von Äckern aus dem Gebiet zwischen Salzwedel, Möckern, Bernburg und Helmstedt. „Das sind mehr als 15.000 Tonnen“, sagt Wolters.

Klingt viel, ist aber Alltag. Die Erträge sind hoch bei der Rübenkampagne 2017. – So heißt die Erntesaison, die noch bis Januar dauert. Der Sommer war zwar nass, dafür sind die Rüben größer, sagt Wolters.

Ein Hektar wird diesmal wohl mindestens 75 Tonnen liefern – der Rekord lag 2014 bei 78 Tonnen. Auch der Zuckergehalt ist mit 17,5 Prozent ordentlich. „Ein guter Wert, wir sind zufrieden“, sagt der 36-Jährige. Alles bestens also im Zuckerrübenland Sachsen-Anhalt?

Die Betriebsamkeit trügt. Im Hintergund haben sich die Spielregeln entscheidend geändert. Während die Rübenernte bereits lief, fiel zum 1. Oktober die Zuckerquote in der EU. Das heißt: Einerseits können die Bauern nun so viele Rüben anbauen und verkaufen, wie sie wollen. Andererseits gelten aber auch die über Jahrzehnte verlässlichen Mindestabnahmepreise nicht mehr. Zuletzt gab es pro Tonne Rüben wenigstens 26 Euro.

20 Kilometer nördlich der Zuckerfabrik sitzt Thomas Seeger in seinem Büro. Der Fall der Quote dürfte den Rübenanbau in Sachsen-Anhalt in große Verwerfungen stürzen, glaubt der Geschäftsführer der Agrargesellschaft Börde in Rottmersleben. „Bis vor fünf Jahren hatten wir noch Milchviehwirtschaft, dann fiel die Milchquote und wir haben die Tiere abgeschafft“, sagt er. „Das gleiche Fiasko könnte es nun auch bei der Zuckerrübe geben.“ Seeger ist verantworlich für 30 Mitarbeiter und 2000 Hektar Land. Der Mechanismus, von dem er spricht, ist das Gesetz der Verdrängung auf einem freien Markt.

Als die Milchquote 2015 fiel, steigerten viele Bauern die Produktion in der Hoffnung auf höhere Gewinne. In der Folge gab es zu viel Milch, die Preise fielen dramatisch. Vor allem kleine und ineffiziente Betriebe mussten schließen.

Tatsächlich ist auch der Zuckerpreis im Vergleich zu früheren Zeiten bereits vor dem offiziellen Ende der Quote dramatisch eingebrochen. Kostete eine Tonne Weißzucker 2007 in der EU noch 650 Euro, so waren es in diesem Sommer gerade noch 370. „Früher galt die Zuckerrübe als Königin der Feldfrüchte und sicheres Standbein“, sagt Seeger. Dieser Status sei nun bedroht. Immerhin trifft das Quotenaus die Bauern nicht unvorbereitet. 1968 eingeführt, um Europa unabhängig von Zuckerimporten zu machen, lockerte die EU sie erstmals 2006. Das endgültige Aus war also absehbar.

Trotzdem weckt die Liberalisierung dunkle Erinnerungen. Als kurz nach der ersten Lockerung Importe aus Entwicklungsländern in gewissem Umfang zugelassen wurden, mussten Zuckerfabriken in Europa schließen. Tausende Landwirte stellten schon damals die Produktion ein.

Wiederholt sich das nun? Das ist noch offen, sagt Seeger. Trotz Quotenwegfalls lohnt sich die Rübe für die Bauern bislang immer noch.

„Der Gewinn je Hektar war zuletzt noch doppelt so hoch wie bei anderen Feldfrüchten.“ Viele Bauern könnten deshalb jetzt noch mehr Rüben anbauen, glaubt der Geschäftsführer. – Genau damit aber könnten sie zugleich den verhängnisvollen Preisverfall in Gang setzen. Das Problem: Jeder Rübenbauer plant für sich. Eine Überproduktion hat der Einzelne als Letztes im Blick. Tatsächlich haben die Landwirte den Anbau bereits ausgeweitet, sagt Cord Linnes, Geschäftführer des Zuckerrübenanbauerverbands Magdeburg. Ihm gehören 400 Rübenbauern an, die die Zuckerfabrik in Klein Wanzleben beliefern.

Das Fatale: Für die Bauern gibt es bei den Feldfrüchten kaum noch Alternativen zur Rübe. Während die Erträge hier zuletzt weiter gestiegen sind, gab es bei den weniger gewinnträchtigen Feldfrüchten wegen Nässe oder Kälte regelrechte Ernteeinbrüche. So gingen die Getreideerträge in diesem Jahr um 15 Prozent zurück, bei Raps waren es sogar 30 Prozent, sagt Thomas Seeger.

Auch die Börde Agrargesellschaft in Rottmersleben hat ihre Rübenproduktion deshalb nach drei Jahren Rückgang in dieser Saison erstmals wieder angehoben. Seeger hat aber vorgesorgt. Mit der Zuckerfabrik in Klein Wanzleben hat er neue Verträge ausgehandelt.

Größere Mengen Rüben kann er damit auch in den nächsten Jahren zu einem festen Mindestpreis verkaufen. „Auch wenn der geringer ist als zuletzt, haben wir doch Planungssicherheit“, sagt er. Zumindest für seinen Betrieb ist der Geschäftsführer dann auch nicht zu pessimistisch, was die Zukunft angeht. Der Markt wird sich regulieren, sagt er. „Irgendwann gehen die Preise wieder hoch.“

Die Agrargesellschaft Börde könnte im Wettbewerb dabei bessere Karten als andere Betriebe haben. Als Anteilseigner der Zuckerfabrik hat sie ein Anrecht, Rüben ans Werk zu liefern. Außerdem liegt sie nah an der Fabrik und ist vergleichsweise groß – beides macht sie günstiger als manchen Konkurrenten.

Und die Zuckerhersteller selbst? Die Nordzucker AG, Mutterunternehmen der Fabrik in Klein Wanzleben und Arbeitgeber für 3200 Beschäftigte an 18 Standorten, lässt wissen: Man fühle sich für die neue Zeit gewappnet. Zwar hat der Konzern die Produktion in diesem Jahr um 10 Prozent erhöht, sagt Sprecherin Tanja Schneider-Diehl. Man denke aber klar marktorientiert. „Wir wollen nur das produzieren, was wir auch gut verkaufen können.“

Dazu, dass Nordzucker künftige Preisturbulenzen möglichst unbeschadet übersteht, soll unter anderem ein neues Vertragssystem beitragen, wie es Geschäftsführer Seeger bereits in Anspruch genommen hat. Das mit dem Dachverband der Rübenbauern ausgehandelte System setzt auf eine Mischung aus fixen und variablen Preisen, sagt Schneider-Diehl. Für 2017 und 2018 seien die Kontingente zum Teil bereits mehr als ausgebucht. „Das zeigt, dass sich auch die Preise auf einem für die Anbauer sehr akzeptablen Niveau bewegen.“

Zurück im Werk in Klein Wanzleben hat Harm-Henning Wolters inzwischen auf die gegenüberliegende Seite der Hallen geführt. In der Hand hält er ein Glas, darin das Produkt seiner Fabrik: kristallweißer Zucker.

Wird der Job über die Jahre nicht langweilig? „Nein“, sagt Wolters. „Meine Eltern haben Rüben angebaut, ich mag den Job und ich mag Zucker. Man muss ja bei Kräften bleiben.“