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Gewerbegebiet Nicht nur Amazon setzt auf Osterweddingen

In der Börde liegt eines von Sachsen-Anhalts größten Gewerbegebieten. Jüngster Coup: Amazon baut ein Logistikzentrum.

18.12.2018, 23:01

Osterweddingen l Dienstagmorgen, 9 Uhr: Die Straße erzittert. Der Geräuschpegel: ohrenbetäubend. Ein Lastwagen nach dem anderen schießt von der A 14 und donnert über die Oster­weddinger Chaussee in Richtung Gewerbegebiet.

Zwei Kilometer weiter in der Gemeindeverwaltung in Osterweddingen studiert der Gemeinde-Bürgermeister von Sülzetal (Landkreis Börde) derweil seinen vollen Terminkalender. Die Straße vor dem Fenster von Jörg Methner ist weniger befahren. Bis in den Ortskern von Osterweddingen stoßen die Lkw-Kolonnen nicht vor. Im Büro des Gemeinde-Bürgermeisters pinnt an der Wand ein Bebauungsplan, Akten stapeln sich auf dem Schreibtisch.

Mit seinem Wirtschaftsförderer Fred Fedder überschlägt Methner die bevorstehenden Termine. „Am Mittwoch um 11 Uhr sind wir bei Bruns Schwerlast, am Donnerstag um 8 Uhr bei Vierlande Food-Service“, sagt Fedder. Methner hört zu und nickt. Die Besuche bei den kleinen wie großen Unternehmen im Gewerbegebiet sind ihm wichtig. Er will zuhören, Fragen beantworten. Das hat er sich fest vorgenommen, als er vor fünf Jahren, im Dezember 2013, sein Amt übernommen hat.

Seither hat er gut zu tun. Ein Grund dafür ist nicht zuletzt das boomende Gewerbegebiet. Eines der größten in Sachsen-Anhalt ist es: 600 Hektar Bruttofläche. Nimmt man das in der Nähe liegende Gewerbegebiet in Dodendorf dazu, stehen für Firmen 300 Hektar Fläche zur Ansiedlung bereit. 18.000 Lkw-Bewegungen gibt es hier – am Tag. Tendenz: steigend. Nicht nur Logistikunternehmen zieht es seit einigen Jahren dank der idealen Anbindung an die A 14, A 2 und zwei Landesstraßen hierher. Die Elbe und der Mittellandkanal sind nicht weit. Drei Flughäfen – Berlin, Leipzig und Hannover – sind in weniger als zwei Stunden erreichbar.

Doch nicht nur die Verkehrsanbindung überzeugt. Es ist das Gesamtpaket. Ein Beispiel: Harry-Brot. Der größte deutsche Backwarenhersteller eröffnete 1994 in Osterweddingen einen Logistikstandort. 1999 entstand die Großbäckerei für Tiefkühlbackwaren. 2001 wurde die Produktionsstätte noch mal erweitert. Produziert wird für den ost- und für den gesamtdeutschen Markt. Bei der Entscheidung für den Standort Osterweddingen seien vor allem die schnellen Entscheidungswege und die kooperative Zusammenarbeit mit den Behörden ein Faktor gewesen, sagt eine Unternehmenssprecherin. Zudem: Die Nähe zur Magdeburger Börde, aus der Harry seinen Rohstoff Getreide bezieht. Positiv außerdem: die Zusammenarbeit mit den regionalen Logistikern und ein entsprechender Arbeitsmarkt. Viele der heute 270 Mitarbeiter kommen aus der Region.

Ähnlich sehen es andere Unternehmen. Immer wieder fallen die Stichworte: gute Anbindung und Infrastruktur, optimale Zusammenarbeit mit der Gemeinde. Jörg Methner – inzwischen zurück von seinen Terminen – sitzt wieder am Schreibtisch und lächelt vielsagend. Er weiß, er ist nicht allein für das Wirtschaftswunder in Osterweddingen verantwortlich. Seine Vorgänger Willi Klemm und Erich Wasserthal haben den Aufschwung angekurbelt. Die Gemeinde erschloss seit Anfang der 90er die Gewerbeflächen mit Hilfe von Fördermitteln. Die Infrastruktur aus Straßen und Versorgungsleitungen wurde besser und besser. Baugenehmigungen wurden nicht selten binnen drei oder vier Wochen erteilt, erinnert sich der frühere Bürgermeister Erich Wasserthal. Das Osterweddinger Urgestein selbst überzeugte den einen oder anderen potenziellen Investor schon mal direkt bei einem Termin vor Ort. Besiegelt wurde der Deal gern auch mal per Handschlag auf dem Börde­acker, sagen Wegbegleiter.

1994 kommt der erste ganz Große: Die Post. 145 Millionen D-Mark lässt sich das Unternehmen seinerzeit die Investition in ein modernes Paket– und Briefzentrum kosten. Heute werden dort am Tag bis zu 1,5 Millionen Sendungen sortiert. Das Frachtzentrum wirkt damals wie ein Magnet. Edeka folgt mit einem Logistikzentrum, 130 Millionen D-Mark schwer. Die Parzellen gehen in der Folge weg wie warme Semmeln.

Derzeit sitzen rund 30 Firmen in Osterweddingen. Maschinenbau-Betriebe, Großerzeuger von Back- und Fleischwaren. Euroglas und „f|glass“ produzieren hochveredelte Gläser unter anderem für die Solarindustrie, für Haushalt und Industrie. Allein bei Euroglas 800 Tonnen am Tag. Außerdem ansässig: der Garten- und Baugeräte-Hersteller Stihl, Nice-Pac – ein Produzent von Feuchttüchern, Logistikunternehmen wie Wolter Koops und Hellmann oder das Planungsunternehmen Goldbeck. Die Freiberger-Gruppe produziert in Osterweddingen Tiefkühlpizzen.

Zu Jahresbeginn hatte der französische Konzern Saint-Gobain angekündigt, sich in Osterweddingen anzusiedeln. Aus dem derzeit entstehenden Logistikzentrum sollen alle deutschen Niederlassungen des Unternehmens mit Fliesen-, Hoch- und Ausbauartikeln sowie Baugeräten und Werkzeugen bedient werden. Dafür investiert der Baufachhändler 34 Millionen Euro. Im September wurde ein weiterer großer Wurf publik: Es sickerte durch, dass Amazon ein Logistikzentrum in Osterweddingen plant. 45 Hektar nimmt der US-amerikanische Versand-Gigant in Beschlag. 2200 Arbeitsplätze sollen entstehen. Die Bagger sind bereits zugange. Arbeiter in leuchtend gelben Westen vermessen eine riesige schon planierte Fläche und trotzen dem beißenden Wind. Wann werden hier die ersten Pakete versendet? „Next year“, sagt einer der Vermessungstechniker. Ende kommenden Jahres könnte es für Amazon am Standort Oster­weddingen losgehen. Offiziell bestätigt ist das noch nicht.

Es scheint, als sei das Gewerbegebiet eine einzige große Erfolgsgeschichte. Doch Gemeindebürgermeister Methner hat auch mit Problemen zu kämpfen. Die pulsierende Hauptverkehrsader durch das Gewerbegebiet – die „Lange Göhren“ – ist an ihrer Belastungsgrenze angelangt. Eine Entlastungsstraße ist bereits geplant. Die Brücken, die ins Gewerbegebiet führen, ächzen unter dem Gewicht der Lastwagen. Nach Möglichkeiten für eine neue Anbindung des Gebiets sucht derzeit eine Arbeitsgruppe, in der Gemeinde, Landkreis, Wirtschafts- und Verkehrsministerium und die Grundstücksfonds Sachsen-Anhalt GmbH (GSA) miteinander kooperieren.

Das größte Problem: Die Kommune steckt in finanziellen Problemen und muss ein Programm zur Haushaltskonsolidierung fahren. Eine der Ursachen: Der überwiegende Teil der Unternehmen im so florierenden Gewerbegebiet führt seine Gewerbesteuer woanders ab. Dieses Schlupfloch müsse der Bund schließen, fordert Jörg Methner. „Es kann nicht sein, dass die Lastwagen unsere Straßen und Brücken kaputtfahren, die Kosten für eine Sanierung dann aber an uns hängenbleiben.“ Optimistisch bleibt er trotzdem.

Viele der Unternehmen engagieren sich sozial im Ort. Nicht nur aus Magdeburg, dem Bördekreis oder dem Salzlandkreis kommen die Menschen, die im Gewerbegebiet arbeiten. Viele sind aus Oster­weddingen oder haben sich des Jobs wegen hier niedergelassen. Handwerker und andere Dienstleister aus dem Ort profitieren. Die Arbeitslosigkeit beträgt rund fünf Prozent.

Methner will mit seiner Gemeinde auch zukünftig daran arbeiten, dass die Erfolgsgeschichte nicht abreißt. Ein weiteres großes Unternehmen könne sich die Ansiedlung sehr gut vorstellen – mehr will er noch nicht verraten. Auch wenn neue Projekte drängen, will der Chef der Gemeinde Sülzetal seinen guten Draht zu den etablierten Firmen nicht abreißen lassen.

Selbst wenn sein Terminkalender jetzt schon glüht.